Als Anspruchsgrundlage für einen Wertersatz kommt allein ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch in Betracht, der als aus den allgemeinen Grundsätzen des öffentlichen Rechts abgeleitetes Rechtsinstitut voraussetzt, dass im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisses Leistungen ohne rechtlichen Grund erbracht wurden oder eine sonstige rechtsgrundlose Vermögensverschiebung stattgefunden hat, und ein Recht auf Herausgabe des Erlangten verschafft1.
Ein Anspruch auf Wertersatz scheitert nicht von vornherein deshalb, weil die Klägerin die Arbeiten zunächst widerspruchslos ausgeführt hat.
Ob einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch überhaupt der Rechtsgedanke des § 814 BGB (Kenntnis der Nichtschuld) entgegenstehen kann2, kann auch in diesem Verfahren offen bleiben, weil die Klägerin nach den Feststellungen des LSG die Zuweisung zunächst hingenommen hat und erst ab einem bestimmten, nicht näher festgestellten Zeitpunkt Zweifel an der Rechtmäßigkeit ihrer Arbeit hatte. Zweifel beinhalten aber keine Kenntnis von einer Nichtschuld.
Ein vorliegend durchgreifender allgemeiner „Vorrang des Primärrechtsschutzes“ ist nicht zu erkennen. Zur Begründung eines solchen von ihm angenommenen „im gesamten öffentlichen Recht“ Geltung beanspruchenden Grundsatzes, der über die spezialgesetzliche Regelung in § 839 Abs 3 BGB hinaus geht, hat das LSG sich insbesondere auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15.07.19813 bezogen, in der aber kein derartiger allgemeiner Grundsatz begründet wird, sondern ausgehend von der konkreten Fallgestaltung und dem Fehlen einer gesetzlichen Entschädigungsregelung bei einem rechtswidrigen Eingriff und dem Unterlassen der grundgesetzlich zulässigen und möglichen Klage gegen den Eingriffsakt ein Entschädigungsanspruch verneint wird4. In den anderen vom LSG angeführten sowie weiteren Entscheidungen wird ebenfalls kein allgemeiner Grundsatz des Primärrechtsschutzes hergeleitet, sondern nur angesprochen und sein Eingreifen jeweils verneint5. In der vom LSG angeführten Literatur wird ebenfalls kein solcher allgemein geltender Grundsatz aufgestellt, sondern die Rechtsmittelversäumung als eine Ausprägung des Mitverschuldens angesehen6.
Gegen einen solchen allgemeinen Grundsatz spricht entscheidend die Konzeption des sozialgerichtlichen Verwaltungsverfahrens, das, wie insbesondere § 44 SGB X zeigt, weniger auf die formelle Rechtswahrnehmung, sondern stärker auf die materielle Rechtmäßigkeit und Gerechtigkeit ausgerichtet ist. Bestätigt wird dies durch die allgemeinen Vorschriften im Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I), wie § 2 Abs 2 Halbs 2 SGB I, nach dem sicherzustellen ist, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden, §§ 13 bis 15 SGB I über Aufklärung, Beratung, Auskunft, einschließlich dem aus ihnen abgeleiteten Herstellungsanspruch, § 17 SGB I über die Ausführung von Sozialleistungen.
Wenn es auch keinen allgemeinen Grundsatz des Primärrechtsschutzes für das gesamte öffentliche Recht gibt, so bestehen dessen ungeachtet in öffentlich-rechtlichen (Sozial-)Rechtsverhältnissen wie zwischen der Klägerin als SGB II-Leistungsempfängerin und dem beklagten Jobcenter Nebenpflichten und Obliegenheiten7, deren Verletzung zu Rechtsnachteilen führen kann.
Eine Kodifikation solcher Pflichten und Obliegenheiten enthalten § 21 Abs 2 SGB X und §§ 60 ff SGB I über die „Mitwirkungspflichten“ der Beteiligten, ohne dass diese beanspruchen, insofern abschließend zu sein. Dass aus dem Sozialrechtsverhältnis Nebenpflichten erwachsen, entspricht der ständigen Rechtsprechung des BSG8. Als typische Folge einer solchen Pflichtverletzung kann es zu einem Herstellungsanspruch kommen9. Andere Folgen können Schadensersatzansprüche oder, insbesondere bei der Verletzung von Obliegenheiten, die Begrenzung eigener Ansprüche sein, sodass im Ergebnis kein grundlegender Unterschied zu den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und Bundesgerichtshofs besteht10.
Übertragen auf das zwischen der Klägerin und dem Beklagten als Träger von Leistungen nach dem SGB II bestehende Sozialrechtsverhältnis bedeutet dies: Dem Anspruch der Klägerin auf Wertersatz kann entgegenstehen, dass sie ihre Obliegenheit aus dem sozialrechtlichen Grundverhältnis gegenüber dem beklagten Jobcenter verletzt hat, dieses auf mögliche rechtswidrige Umstände hinzuweisen und die Möglichkeit zur Abhilfe zu geben, wenn aus dem Grundverhältnis weitere Ansprüche abgeleitet werden sollen. Auf die Entscheidung, ob der Rechtsgrund für ihr Tätigwerden die Eingliederungsvereinbarung vom 31.10.2008/7.11.2008 oder ein in dem Schriftstück vom 31.10.2008 verlautbarter Verwaltungsakt ist, kommt es insofern nicht an11. Ein solcher Hinweis ist einem Leistungsbezieher auch regelmäßig zumutbar12 und entspricht – wenn auch nicht direkt – den Obliegenheiten aus § 60 Abs 1 Satz 1 Nr 1 und 2 SGB I, Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind, und ebensolche Änderungen mitzuteilen. Unterlässt er diesen Hinweis, besteht ab dem Kennenkönnen auch kein Anspruch auf Wertersatz mehr, vielmehr ist eine Anspruchsbegrenzung ab dem Zeitpunkt anzunehmen, ab dem auch aus der Laienperspektive Anlass bestanden hätte, den Beklagten auf die Fehlerhaftigkeit der Zuweisung hinzuweisen („hier läuft etwas schief“).
Wann dieser Zeitpunkt für die Anspruchsbegrenzung eintritt, hängt von dem konkreten Einzelfall ab und hat sowohl die Erkenntnismöglichkeiten des Leistungsbeziehers als auch die Art der Arbeitsgelegenheit zu berücksichtigen. Für das vorliegende Verfahren bedeutet dies, dass nicht ab dem ersten Tag der Arbeitsgelegenheit die Hinweispflicht bestand, aber angesichts der Tatsache, dass die Klägerin über den gesamten Maßnahmezeitraum hinweg gleichmäßig mit den Tätigkeiten „Disposition, Telefonzentrale, Geräterücknahme“ beschäftigt war, jedenfalls vor Ende der Maßnahme.
Bundessozialgericht Urteil vom 22. August 2013 – B 14 AS 75/12 R
- BSG Urteil vom 13.04.2011 – B 14 AS 98/10 R, BSGE 108, 116, SozR 4-4200 § 16 Nr 7, RdNr 13; BSG Urteil vom 27.08.2011 – B 4 AS 1/10 R, BSGE 109, 70, SozR 4-4200 § 16 Nr 9[↩]
- BSG Urteil vom 13.04.2011 – B 14 AS 98/10 R, BSGE 108, 116, SozR 4-4200 § 16 Nr 7, RdNr 21 mwN[↩]
- BVerfG Urteil vom 15.07.1981 – 1 BvL 77/78 – BVerfGE 58, 300: „Nassauskiesung“[↩]
- BVerfG, aaO; ähnlich: BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des 2. Senats vom 04.09.2008 – 2 BvR 1720/03[↩]
- vgl BSG Urteil vom 15.12.2009 – B 1 AS 1/08 KL, BSGE 105, 100, SozR 4-1100 Art 104a Nr 1, RdNr 16 f: Abstellen auf die Besonderheiten von Art 84 Abs 4 und Art 104a Abs 5 GG; BVerwG Beschluss vom 22.05.2003 – 6 B 25/03-RdNr 6: keine Annahme eines allgemeinen Grundsatzes, sondern Bewertung der Nicht-Inanspruchnahme von Rechtsschutz als Mitverschulden gemäß § 62 VwVfG, § 254 BGB; BGH Urteil vom 13.07.1995 – III ZR 160/94 – BGHZ 130, 332; BGH Urteil vom 21.10.1999 – III ZR 130/98 – BGHZ 143, 18: Verneinung der Anwendung eines Vorrangs des Primärrechtsschutzes, aber Hinweis auf ein Mitverschulden des Klägers und seine Schadensminderungspflicht[↩]
- Papier in Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl 2013, § 839 RdNr 329[↩]
- vgl zur Unterscheidung nur: Grüneberg in Palandt, 72. Aufl 2013, vor § 241 RdNr 13; zum SGB X: Vogelgesang in Hauck/Noftz, SGB X, Stand: 6/2013, K § 21 RdNr 30[↩]
- vgl allgemein nur BSG Urteil vom 19.03.1992 – 7 RAr 26/91, BSGE 70, 186, SozR 3-1200 § 53 Nr 4: Schadensersatzpflicht; ähnlich: BSG Urteil vom 27.01.2000 – B 12 KR 10/99 R, SozR 3-2400 § 28h Nr 11; BSG Urteil vom 25.03.1999 – B 9 V 11/98 R, SozR 3-3100 § 10 Nr 6; BSG Urteil vom 17.12.2009 – B 3 KR 13/08 R, BSGE 105, 157, SozR 4-2500 § 129 Nr 5, RdNr 36 ff; zum Herstellungsanspruch als Folge einer Verletzung von Nebenpflichten: BSG Urteil vom 18.12.1975 – 12 RJ 88/75, BSGE 41, 126, SozR 7610 § 242 Nr 5; BSG Urteil vom 23.07.1986 – 1 RA 31/85, BSGE 60, 158, SozR 1300 § 44 Nr 23; BSG Urteil vom 29.08.2012 – B 12 R 7/10 R, SozR 4-2600 § 2 Nr 16; speziell zu Pflichten der Leistungsberechtigten: BSG Urteil vom 23.03.1972 – 5 RJ 63/70, BSGE 34, 124, SozR Nr 25 zu § 29 RVO; BSG Urteil vom 10.11.1977 – 3 RK 44/75, BSGE 45, 119, SozR 2200 § 1542 Nr 1; vgl auch BVerwG Urteil vom 13.04.1984 – 4 C 31/81; BVerwG Beschluss vom 20.01.2010 – 9 B 31/09; vgl zu Nebenpflichten bei öffentlich-rechtlichen Verträgen: Becker in Hauck/Noftz, SGB X, § 61 RdNr 94 ff; Engelmann in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, RdNr 4a, 4c; vgl allgemein zu Nebenpflichten in öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnissen: Schmitz in Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 7. Aufl 2008, § 9 RdNr 30 ff[↩]
- BSG aaO[↩]
- BVerwG Beschluss vom 22.05.2003 – 6 B 25/03-RdNr 6; BGH Urteil vom 13.07.1995 – III ZR 160/94 – BGHZ 130, 332; BGH Urteil vom 21.10.1999 – III ZR 130/98 – BGHZ 143, 18[↩]
- vgl zur Eingliederungsvereinbarung als öffentlich-rechtlicher Vertrag: BSG Urteil vom 14.02.2013 – B 14 AS 195/11 R, SozR 4-4200 § 15 Nr 2[↩]
- vgl Schmitz in Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, aaO, § 9 RdNr 36[↩]