Die Ablehnung eines Arbeitsplatzes

Einem Empfänger von Leistungen nach dem SGB II ist es zumutbar, eine Gesamtpendelzeit von täglich unter 2,5 Stunden zur Erreichung eines Vollzeitarbeitsplatzes in Kauf zu nehmen. In dieser Gesamtpendelzeit liegt kein wichtiger Grund, der zur Ausschlagung des Arbeitsangebotes berechtigt.

So hat das Sozialgericht Karlsruhe im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes in dem hier vorliegenden Fall eines Antragstellers, der sich gegen einen Sanktionsbescheid gewehrt hat. Der 1960 geborene Antragsteller steht beim Antragsgegner im Bezug laufender Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II. Mit erstem Sanktionsbescheid verfügte der Antragsgegner eine Absenkung des Arbeitslosengeldes II um monatlich 30 v. H. der Regelleistung wegen nicht dokumentierter Eigenbemühungen. Den dagegen gerichteten Eilantrag des Antragstellers lehnte das Sozialgericht Karlsruhe1 ab.

Durch weitere Eingliederungsvereinbarung verpflichtete sich der Antragsteller monatlich bei mindestens 5 Firmen um einen Arbeitsplatz zu bewerben, diese aktiven Eigenbemühungen schriftlich zu dokumentieren und dem Antragsgegner vorzulegen. Dieser Pflicht kam der Antragsteller nicht nach, obgleich er in der Eingliederungsvereinbarung ausdrücklich über die Folgen von Verstößen – Absenkung des Arbeitslosengeldes II um bis zu 100 v. H. der Regelleistung – belehrt worden war. Daraufhin senkte der Antragsgegner das dem Antragsteller gewährte Arbeitslosengeld um monatlich 60 v. H. der Regelleistung, später um monatlich 100 v. H. der Regelleistung.

Am … 2012 erhielt der Antragsteller vom Antragsgegner einen Vermittlungsvorschlag zur Beschäftigung als Schreiner/Tischler. Der Antragsteller stellte sich persönlich bei der Firma I… in R… vor; die I… bot dem Antragsteller am, ihn ab sofort zu beschäftigen (Vollzeit, 35 Stunden wöchentlich). Der weitere Verlauf des Bewerbungsgesprächs blieb streitig. Während die I… dem Antragsgegner mitteilte, der Antragsteller habe ihr auf das Stellenangebot erklärt, er wolle grundsätzlich nicht mit oder über Personaldienstleister arbeiten und bewerbe sich nur, weil ihn die Arbeitsverwaltung dazu zwinge, erklärte der Antragsteller, er habe die I… nur um eine kurze Bedenkzeit vor einer Entscheidung über das Arbeitsangebot gebeten, weil der in Aussicht gestellte Arbeitsplatz für ihn insbesondere zu Beginn der Arbeitszeit nur sehr schwer mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen sei und er Antworten auf seine übrigen Bewerbungen abwarten wolle. Im Folgenden verfügte der Antragsgegner mit Bescheid vom … 2012 den vollständigen Wegfall des Arbeitslosengelds II für den Zeitraum von Mai bis einschließlich Juli 2012, weil der Antragsteller seine Bewerbung bei der I… am … 2012 zurückgezogen habe, ohne dass ihm dafür ein wichtiger Grund zur Seite gestanden hätte. Da der Antragsteller sich auch nicht bereit erklärt habe, zukünftig seinen Pflichten nachzukommen, sei eine Begrenzung des Wegfalls des Arbeitslosengelds II um nur 60 v.H. abzulehnen gewesen. Sachleistungen oder geldwerte Leistungen würden auf Antrag erbracht werden.

Am … 2012 erhob der Antragsteller gegen den Sanktionsbescheid vom … 2012 Widerspruch, über den noch nicht entschieden ist.

Am … 2011 hat der Antragsteller beim Sozialgericht Karlsruhe vorläufigen Rechtsschutz beantragt.

In seiner Begründung führt das Sozialgericht Karlsruhe aus, dass nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen kann. Ein solcher Antrag ist begründet, wenn eine Interessenabwägung ergibt, dass dem privaten Interesse des Antragstellers an der Herstellung der aufschiebenden Wirkung gegenüber dem (durch die Antragsgegnerin vertretenen) Interesse der Allgemeinheit an der sofortigen Vollziehung der Vorrang zu geben ist. Dabei ist zu beachten, dass der Gesetzgeber grundsätzlich die sofortige Vollziehung angeordnet hat. Davon abzuweichen besteht nur Anlass, wenn im Einzelfall gewichtige Argumente für eine Umkehr des gesetzgeberisch angenommenen Regelfalls sprechen, d.h. besondere Umstände vorliegen, die ausnahmsweise das Privatinteresse des vom Verwaltungsakt Belasteten in den Vordergrund treten lassen2. Ein wesentliches Kriterium bei der Interessenabwägung ist die nach vorläufiger Prüfung der Rechtslage zu bewertende Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs in der Hauptsache3, wobei beachtet werden muss, dass für die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes ein besonderes Interesse erforderlich ist, das über jenes hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt4.

Hat die Hauptsache offensichtlich Aussicht auf Erfolg, ist die aufschiebende Wirkung in der Regel anzuordnen, weil am Vollzug eines rechtswidrigen Bescheides in der Regel kein öffentliches Interesse besteht5. Bei einem als rechtmäßig zu beurteilenden Bescheid hingegen ist das öffentliche Interesse am Vollzug regelmäßig vorrangig. Sind die Erfolgsaussichten nicht in dieser Weise abschätzbar, d.h. ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, so ist jedenfalls in Fällen, in denen wie vorliegend, existenzsichernde Leistungen in Frage stehen und damit die Wahrung der Würde des Menschen berührt wird, eine Folgenabwägung vorzunehmen, die auch Fragen des Grundrechtsschutzes einbezieht6.

An diesem Prüfungsmaßstab orientiert, kann der Antragsteller, dessen noch zu erhebende Klage wie der vorangegangene Widerspruch gegen den Sanktionsbescheid nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 1 SGB II grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung hat, mit seinem Begehren auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung im Beschwerdeverfahren nicht durchdringen. Denn sein Aussetzungsinteresse überwiegt nicht das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin.

Das Gericht beurteilt den angefochtenen und auf der Grundlage von § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 31a Abs. 1 S. 3 SGB II und § 31b SGB II ergangenen Sanktionsbescheid vom … 2012 als aller Voraussicht nach rechtmäßig. Der Antragsteller ist über die Rechtsfolgen bei Verletzung der von ihm in der Eingliederungsvereinbarung per Verwaltungsakt vom … 2011 übernommenen Pflichten entsprechend den höchstrichterlich entwickelten Maßstäben7 belehrt worden. Am … 2012 ist dem Antragsteller ab sofort eine sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung als Schreiner/Tischler in R… angeboten worden. Dieses Angebot hat der Antragsteller am … 2012 nicht angenommen.

Soweit der Antragsteller dies nach § 31 Abs. 1 S. 2 SGB II unter Hinweis auf das Vorliegen eines wichtigen Grundes, der der sofortigen Angebotsannahme entgegen gestanden habe, rechtfertigen und entschuldigen will, folgt das Gericht dem nicht. Dabei kommt es nicht entscheidungserheblich auf den zwischen den Beteiligten bestehenden Streit darum an, ob der Antragsteller am … 2012 gegenüber der I… erklärt hat, er sei grundsätzlich nicht bereit bei Personaldienstleistern zu arbeiten. Das kann auf sich beruhen. Für das Sozialgericht streitentscheidend ist vielmehr allein die vom Antragsteller im Prozessverfahren eingeräumte Tatsache, er habe sich auf das Angebot zum sofortigen Abschluss eines Arbeitsvertrags eine Bedenkzeit ausgebeten im Hinblick auf die erschwerte Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes von seinem Wohnsitz aus mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Damit nämlich hat er das auf den sofortigen Beginn eines Arbeitsverhältnisses gerichtete Arbeitsangebot ausgeschlagen, ohne dass ihm dafür ein wichtiger Grund zur Seite steht. Von erschwerten Erreichbarkeit der dem in der A…-Str. in R… wohnhaften Kläger in R…, A… angebotenen Arbeitsstelle kann nämlich in keiner Weise gesprochen werden. Laut aktueller KVV-Fahrplanauskunft vom 4. Juni 2012 beträgt die komplette Anreisezeit von der Wohnung des Antragstellers zum angebotenen Arbeitsplatz – einschließlich Fußwegen – je nach Fahrzeit zwischen 60 und 69 Minuten. Dabei besteht ein Halbstundentakt. Damit kann auch unter analoger Anwendung von § 121 Abs. 4 S. 2 SGB III keine unverhältnismäßig lange Pendelzeit zwischen Wohnung und Arbeitsstätte angenommen werden, weil der Antragsteller insgesamt für Hin- und Rückweg nicht mehr – sondern deutlich weniger – als zweieinhalb Stunden bei einer Arbeitszeit von mehr als 6 Stunden arbeitstäglich – hier: Vollzeit bei 35 Wochenstunden – benötigt. Auch seine weitere Einlassung, er habe das Ergebnis anderer Bewerbungen abwarten wollen, rechtfertigt keine andere Entscheidung. Zum einen ist der Antragsteller bereits langzeitarbeitslos und zum anderen steht es ihm jederzeit frei, bei einem günstigeren Arbeitsangebot dieses anzunehmen und im Gegenzug ein bis dahin inngehabtes Beschäftigungsverhältnis zu kündigen. Letzteres ist insbesondere während der üblichen Probezeit ohne Weiteres und schnell möglich.

Das von dem Antragsteller als Entschuldigung für sein Verhalten am … 2012 angeführte Vorgehen – das unberechtigte Bitten um Bedenkzeit wegen angeblich erschwerter Erreichbarkeit des angebotenen Arbeitsplatzes – rechtfertigt nach dem Vorstehenden bereits für sich genommen die mit dem angefochtenen Bescheid vom … 2012 verfügte Sanktion. Im Hinblick darauf, dass es sich bei der Verfügung nach § 31a Abs. 1 S. 3 SGB II um eine gebundene Verwaltungsentscheidung handelt, ist die Abänderung des Sachverhalts infolge der neuen Einlassungen des Antragstellers während des gerichtlichen Verfahrens unschädlich.

Eine Erklärung nach § 31a Abs. 1 S. 6 SGB II hat der Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner im behördlichen Verfahren nach Aktenlage nicht abgegeben. Auch insoweit lässt der Sanktionsbescheid vom … 2012 im Zeitpunkt seines Erlasses keinen Fehler erkennen. Soweit er erstmals im Prozessverfahren durch seinen Bevollmächtigten mit der Antragstellung am … 2012 hat erklären lassen, er sei selbstverständlich bereit, die ihm vollständig auferlegten Pflichten zu erfüllen, hat der Antragsgegner Gelegenheit sich mit dieser Einlassung im ausstehenden Widerspruchsbescheid auseinanderzusetzen und seine Ermessensentscheidung – „kann“ die Sanktion begrenzen – in der Begründung entsprechend zu präzisieren. In der Sache dürfte sie nach dem Vorstehenden kaum anders als im Bescheid vom … 2012 ausfallen, weil der Antragsteller mit dem von ihm selbst eingeräumten Verhalten am … 2012, das er auch heute noch für richtig hält, gerade eben zeigt, kein hinreichendes Interesse an der Aufnahme einer ihm zumutbaren Arbeit zu haben.

Schließlich ist zu beachten, dass der Antragsteller zu keiner Zeit im Laufe des Verfahrens schwere und unwiederbringliche Nachteile dargelegt hat, aufgrund derer seinem Suspensionsinteresse entgegen der gesetzgeberischen Entscheidung unabhängig vom Vorstehenden der Vorrang zu geben gewesen wäre. Durch den Wegfall der Regelleistung ist für den Antragsteller in den Sanktionsmonaten die Existenzsicherung nicht in Frage gestellt worden. Den Wegfall der Regelleistung hat der Antragsteller im existenzsichernden Bereich durch den Antrag auf Gewährung von ergänzenden Sachleistungen oder geldwerten Leistungen gemäß § 31a Abs. 3 SGB II auffangen können. Dies hat er zuletzt auch getan (Antrag vom … 2012, Lebensmittelgutscheine vom …2012 im Wert von insgesamt 171,99 EUR).

Sozialgericht Karlsruhe, Beschluss vom 4. Juni 2012 – S 4 AS 1956/12 ER

  1. SG Karlsruhe, Beschluss vom 21.12.2010 – S 13 AS 5077/10 ER[]
  2. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 10. Aufl. 2008, vgl. auch Keller a.a.O., § 86b Rn 12 c m.w.N.[]
  3. § 86 b Rn 12, 12 e; Berlit, info also 2005, S. 3, 6; Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2. Aufl. 2008, S. 92[]
  4. BVerfG, Beschluss vom 30.10.2009 – 1 BvR 2395/09[]
  5. Keller, a.a.O., § 86b Rn 12 f[]
  6. vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 Rn. 25, 26, 29 in Breith 2005, 803 ff.[]
  7. BSG, Urteil vom 17.12.2009 – B 4 AS 30/09 R[]