Die Kosten der für den Schulbesuch erforderlichen speziellen Berufskleidung ist nicht bereits durch Gewährung der Schulbedarfspauschale nach § 28 Abs 3 SGB II gedeckt. Eine Deckung der Kosten durch die bereits erfolgte Gewährung von Regelbedarfsleistungen nach § 20 SGB II führt zu einem Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.
So hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen in dem hier vorliegenden Fall das Jobcenter dazu verpflichtet, die Anschaffungskosten für Berufsbekleidung vollständig zu übernehmen. Gleichzeitig ist das Urteil des Sozialgerichts Hannover1 dahingehend geändert worden. Zur Klage war es gekommen, weil ein damals 17-jähriger Schüler aus Hannover, dessen Familie Hartz-IV-Leistungen bezieht, sich für den Kochberuf interessierte und zu Beginn der Berufseinstiegsschule eine Bekleidungsgarnitur brauchte. Ein neues Set kostete 115 € von Mütze bis Schuh. Diese für den Schulbesuch erforderliche Berufskleidung konnte damals weder von der Schule
ausgeliehen werden noch bestand die Möglichkeit einer Finanzierung oder Vorfinanzierung von
dritter Seite wie zB durch den Förderverein der Schule. Den Kaufpreis wollte der Schüler erstattet haben, da er den zusätzlichen Bedarf nicht anders decken konnte. Diesem Begehren hat das Jobcenter nicht entsprochen: Dem Kläger sei im Februar und August 2016 bereits insgesamt 100,00 Euro als Schulbedarfspauschale gewährt worden seien. Mit der Schulbedarfspauschale seien alle im Zusammenhang mit dem Schulbesuch für die persönliche Ausstattung anfallenden Kosten abgedeckt, somit auch die Kosten für Berufskleidung. Sonstige Schulbedarfe seien weder als Mehrbedarfe noch als Bedarfe für Erstausstattung gesetzlich vorgesehen.
Gegen diese Entscheidung hat der Schüler Klage erhoben. Doch das Sozialgericht Hannover1 hat der Klage keinen Erfolg beschieden. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe bereits entschieden, dass der Betrag der Schulbedarfspauschale (100,00 Euro pro Jahr) nicht zu einer evidenten Bedarfsunterdeckung führe und somit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Auch liege es in der Natur einer Pauschale, dass eine abweichende Festlegung der Bedarfe ausgeschlossen sei. Dass der aufzuwendende Betrag im Einzelfall ober- oder unterhalb der Pauschale liege, führe nicht zur Fehlerhaftigkeit der Pauschale, sondern sei eine immanente Folge jeglicher Pauschalierung2. Es komme allenfalls eine Darlehensgewährung nach § 24 Abs. 1 SGB II in Betracht, soweit die Pauschale für die Anschaffung der Berufsbekleidung nicht ausgereicht habe. Ein Anspruch ergebe sich auch nicht aus § 21 Abs 6 SGB II, da es sich bei der Berufskleidung um einen einmaligen und nicht um einen laufenden Bedarf handele. Mit dieser Entscheidung war der Schüler nicht einverstanden und hat Berufung eingelegt.
In seiner Urteilsbegründung hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen darauf hingewiesen, dass es sich bei der für den Besuch der Berufseinstiegsklasse Lebensmittelhandwerk und Gastronomie erforderlichen speziellen Berufskleidung um einen grundsicherungsrechtlich notwendigen Bedarf des damals noch schulpflichtigen Klägers handelte.
Die Notwendigkeit der im Berufseinstiegs-Set enthaltenen Berufskleidung für den Schulbesuch
des damals schulpflichtigen Klägers ergibt sich aus dem Schreiben der Schule vom 21. Juni
2016, wonach genau diese Berufskleidung zum Unterrichtsbeginn vorhanden sein musste. Zu
den vorgegebenen Bekleidungsgegenständen gehörten – entgegen der Auffassung des Beklagten – auch die von der Schule ausdrücklich vorgegebenen Sicherheitsschuhe. Insoweit lässt das Landessozialgericht offen, ob und inwieweit der Beklagte überhaupt berechtigt ist, Vorgaben der Schule zur Anschaffung von Schulmaterialien infrage zu stellen oder diesbezügliche Leistungen auf etwaige Angemessenheitsgrenzen zu beschränken3. Schließlich hat die Schule auf Nachfrage ausdrücklich der Auffassung des Beklagten widersprochen, dass in der vom Kläger besuchten Berufseinstiegsklasse andere Schuhe mit rutschfesten Sohlen ausreichend seien. Aufgrund der Anforderungen an Sicherheit und Hygiene sind geschlossene Sicherheitsschuhe notwendig.
Bei der von der Schule für den Schulbesuch des schulpflichtigen Klägers bindend vorgeschriebenen Berufskleidung handelt es sich um einen grundsicherungsrechtlichen Bedarf iSd SGB II.
Insoweit ist durch die Rechtsprechung des BVerfG und des BSG geklärt, dass alle anderweitig
nicht gedeckten notwendigen Schulbedarfe im Rahmen der Grundsicherung nach dem SGB II
zu übernehmen sind. Allerdings hat der Bund das gesamte menschenwürdige Existenzminimum und damit auch den Bedarf an notwendigem Schulbedarf sicherzustellen4. Der streitbefangene Bedarf war nicht bereits anderweitig gedeckt. Die schulnotwendige Berufskleidung konnte weder von der Schule ausgeliehen werden noch wurde sie anderweitig zur Verfügung gestellt. Ebenso wenig bestand die Möglichkeit einer Finanzierung oder Vorfinanzierung von dritter Seite wie zB durch den Förderverein der Schule (vgl hierzu ebenfalls: Schreiben der Schule vom 4. März 2019). Unabhängig davon darf ein Hilfebedürftiger generell nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist.
Entgegen der Auffassung des Beklagten sind die streitbefangenen Kosten der für den Schulbe-
such erforderlichen Berufskleidung nicht bereits durch Gewährung der Schulbedarfspauschale
nach § 28 Abs 3 SGB II gedeckt. Ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 24a SGB II (in der bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung und damit als Vorgängerregelung des derzeit geltenden § 28 Abs 3 SGB II) soll die Schulbedarfspauschale insbesondere die Kosten der Anschaffung von Gegenständen zur persönlichen Ausstattung für die Schule und für Schreib‑, Rechen- und Zeichenmaterialien abdecken. Berufskleidung wird in diesen Aufzählungen nicht erwähnt.
Die Kombination der Leistungen nach § 28 Abs 3 SGB II (Schulbedarf) und § 20 SGB II (Regelbedarf) sichert somit eine auskömmliche Deckung des grundsicherungsrechtlichen Bedarfs an Sportkleidung als Schulbedarf sowie als Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Dies ist bei schulnotwendiger spezieller Berufskleidung dagegen gerade nicht der Fall. So ist die Verwendung der im vorliegenden Verfahren streitbefangenen Kochkleidung im privaten Bereich praktisch ausgeschlossen. Das Landessozialgericht hat keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger die Kochhose im Pepita-Muster, den weißen Vorbinder, die Kochmütze oder die weißen Kugelknöpfe im außerschulischen Bereich sinnvoll nutzen könnte. Ebenso wenig gibt es Hinweise darauf, dass der Kläger diese Kleidungsstücke außerhalb der Schule tatsächlich getragen hat. Der Hinweis des Beklagten auf weitere Nutzungsmöglichkeiten (nämlich im Rahmen einer anschließenden Berufsausbildung im gastronomischen Bereich) geht ins Leere, da der Kläger nach Absolvierung des Schuljahrs 2016/2017 eine Berufsausbildung als Fachkraft für Schutz und Sicherheit aufgenommen hat. Dort bestand erkennbar keine Verwendungsmöglichkeit für die streitbefangene Berufskleidung.
Die Kosten der für den Schulbesuch des Klägers erforderlichen speziellen Berufskleidung sind auch nicht durch die bereits erfolgte Gewährung von Regelbedarfsleistungen nach § 20 SGB II auskömmlich gedeckt. Obwohl der Gesetzgeber die Aufwendungen für Bekleidung (einschl Berufskleidung) und Bildung im Regelbedarf verortet, ist der der grundsicherungsrechtliche Bedarf von schulpflichtigen Schülern, denen nicht nur unwesentliche Kosten für die Anschaffung von schulnotwendiger spezieller Berufskleidung entstehen, im Regelbedarf nicht realitätsgerecht erfasst. Vielmehr bleibt der diesbezügliche Bedarf auch nach Gewährung der Regelbedarfsleistung weitestgehend und damit evident ungedeckt.
Bei einer Finanzierung der schulnotwendigen Berufskleidung allein aus der dem Kläger im Anschaffungsmonat (Juli 2016) gewährten Regelbedarfsleistung hätten ihm in diesem Monat le-
diglich noch 3,20 Euro an Regelbedarfsleistung (116,00 Euro abzgl 112,80 Euro für das Berufseinstiegs-Set) sowie das Kindergeld (190,00 Euro), also im gesamten Monat Juli 2016 nur noch 193,20 Euro für sämtliche Bedarfe des täglichen Lebens zur Verfügung gestanden. Dass eine monatliche Regelbedarfsleistung für einen hilfebedürftigen 17-jährigen iHv nur noch 193,20 Euro eine evidente Bedarfsunterdeckung und damit einen Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums darstellt, ist offensichtlich. Der verbleibende Betrag ist auch nicht mehr „noch“ auskömmlich.
Bei der schulnotwendigen speziellen Berufskleidung in Form des Berufseinstiegs-Sets handelt
es sich um einen im Einzelfall unabweisbaren und besonderen Bedarf iSd § 21 Abs 6 SGB II. Dass es sich bei dem zusätzlichen Bedarf an schulnotwendiger spezieller Berufskleidung nicht um einen laufenden Bedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II handelt, steht wegen der vorliegend gebotenen verfassungskonformen Auslegung des SGB II einem Anspruch des Klägers im Ergebnis nicht entgegen. Da im Regelbedarf des Klägers für den Bereich „Bildung“ ein Teilbetrag iHv 0,32 Euro eingerechnet ist, besteht der Anspruch auf Übernahme der Kosten für das Berufseinstiegs-Set lediglich in Höhe von 112,80 – 0,32 Euro = 112,48 Euro. Diese Summe hat das zuständige Jobcenter für die Berufsbekleidung zu übernehmen.
Wegen grundsätzlicher Bedeutung ist die Revision zugelassen worden.
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26. Mai 2020 – L 11 AS 793/18
- SG Hannover, Urteil vom 13.08.2018 – S 30 AS 36/17[↩][↩]
- LSG Nieders.-Bremen, Urteil vom 11.12.2017 – L 11 AS 349/17 – [Taschenrechner als Teil des Schulbedarfs iSd § 28 Abs 3 SGB II][↩]
- vgl zur fehlenden Befugnis des Grundsicherungsträgers, die Kosten einer mehrtägigen Klassenfahrt auf einen Höchstbetrag zu beschränken: BSG, Urteil vom 13.11.2008 – B 14 AS 36/07 R [↩]
- BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09[↩]
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