Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist ein behindertes Kind dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten existenziellen Lebensbedarfs ausreicht1. Der gesamte existenzielle Lebensbedarf des behinderten Kindes setzt sich typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen2.
Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen, nämlich des gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits, zu prüfen. Erst wenn sich daraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes ergibt, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerliche Leistungsfähigkeit mindert3. Dann ist es auch gerechtfertigt, für behinderte Kinder kein Kindergeld oder keinen Kinderfreibetrag zu gewähren4.
Bei der Prüfung, ob ein volljähriges Kind wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, ist auf den Kalendermonat abzustellen5.
Das ALG II nach § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB – II gehört zu den Bezügen i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der im Streitjahr geltenden Fassung6. Denn Bezüge in diesem Sinne sind alle Zuflüsse in Geld oder Naturalleistungen, die nicht im Rahmen der einkommensteuerrechtlichen Einkünfteermittlung erfasst werden7. Das ALG II kann kindergeldrechtlich nicht anders behandelt werden wie die Grundsicherung nach den §§ 41 ff. SGB XII, die grundsätzlich als Bezug des Kindes zu erfassen ist8. Der Unterschied zwischen beiden Sozialleistungsformen besteht darin, dass das ALG II an erwerbsfähige Hilfsbedürftige gezahlt wird (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB – II und § 19 Abs. 2 Satz 1 SGB XII). Dieser Unterschied ist für die Frage, ob das behinderte Kind sich mit eigenen Finanzmitteln selbst unterhalten kann, irrelevant.
Unterschiedlich hohe Unterkunftskosten, die einzelnen Beziehern von ALG II erstattet werden (vgl. § 22 Abs. 1 SGB II), rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. Denn das Steuerrecht orientiert sich im Bereich der Unterkunftskosten nicht am Sozialrecht. Während dort die tatsächlichen Kosten für eine angemessene Unterkunft erstattet werden, werden im Steuerrecht Unterkunftskosten -ungeachtet aller regionalen Unterschiede- nur pauschal mit einem bundeseinheitlichen Betrag im Rahmen des steuerrechtlichen Existenzminimums berücksichtigt9. Mit dieser Typisierung wird ein legitimer Vereinfachungszweck verfolgt10, der im Einzelfall allerdings dazu führen könnte, dass solche Steuerpflichtige über den Kinderfreibetrag oder das Kindergeld eine Entlastung erfahren, deren behinderte Kinder sich angesichts regional niedriger Unterkunftskosten mit eigenen Einkünften und Bezügen eigentlich selbst unterhalten könnten.
Wird eine für einen vergangenen Zeitraum geleistete Nachzahlung, die zum Wegfall der Bedürftigkeit führt, erst im Laufe des Monats ausbezahlt, wirkt sie sich erst ab dem auf den Zuflussmonat folgenden Monat kindergeldschädlich aus11. Sie ist auf den Zuflussmonat und die restlichen Monate des Zuflussjahres zu verteilen12. Der Senat folgt damit der Auffassung der Familienkasse, dass zwischen der Nachzahlung einer Waisenrente, die dem BFH, Urteil in BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046 zugrunde lag, und der Nachzahlung von ALG II im Hinblick auf die kindergeldrechtliche Berücksichtigung keine Unterschiede bestehen. Eine Verteilung auf die -zurückliegenden- Monate, für die die ALG II-Nachzahlung gewährt wird, kommt im Kindergeldrecht wegen des dort grundsätzlich geltenden Zuflussprinzips nicht in Betracht13. Auch eine Berücksichtigung der -gesamten- Nachzahlung ausschließlich im Zuflussmonat scheidet aus. Dies hat der Bundesfinanzhof bereits entschieden14.
Bundesfinanzhof – Beschluss vom 8. August 2013 – III R 30/12
- vgl. z.B. BFH, Urteile in BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046, unter II. 1.c; vom 23.02.2012 – V R 39/11, BFH/NV 2012, 1584[↩]
- vgl. z.B. BFH, Urteil vom 15.10.1999 – VI R 183/97, BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, unter 1.c[↩]
- vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29.05.1990 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60, 87, BStBl II 1990, 653, 658; BFH, Urteil vom 15.10.1999 – VI R 40/98, BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75[↩]
- vgl. BFH, Urteil in BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046, unter II. 1.c[↩]
- ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH, Entscheidungen in BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046; vom 28.03.2011 – III B 144/09, BFH/NV 2011, 1144[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 19.11.2008 – III R 105/07, BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057[↩]
- vgl. z.B. BFH, Urteil vom 28.05.2009 – III R 8/06, BFHE 225, 141, BStBl II 2010, 346, unter II. 1.b[↩]
- BFH, Urteil vom 20.03.2013 – XI R 51/10, BFH/NV 2013, 1088, m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 18.11.2009 – X R 34/07, BFHE 227, 99, BStBl II 2010, 414, unter B.III. 2.f der Gründe[↩]
- vgl. BFH, Urteil in BFHE 227, 99, BStBl II 2010, 414, m.w.N.[↩]
- vgl. BFH, Entscheidungen in BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046, unter II. 2.; in BFH/NV 2012, 1584; in BFH/NV 2013, 1088; vom 11.04.2013 – III R 35/11, BFHE 241, 499, BStBl II 2013, 1037[↩]
- vgl. BFH, Urteil in BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046; zu regelmäßig wiederkehrenden Zahlungen i.S. des § 11 Abs. 1 Satz 2 EStG, vgl. BFH, Urteil in BFHE 241, 499, BStBl II 2013, 1037[↩]
- a.A. Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, § 32 Rz 490[↩]
- BFH, Urteil in BFH/NV 2013, 1088[↩]