Die Frage, ob dem Vermieter die Berufung auf eine zunächst wirksame ordentliche Kündigung wegen nachträglich eingetretener Umstände mit Rücksicht auf Treu und Glauben verwehrt ist, entzieht sich allgemeiner Betrachtung. Sie ist vielmehr aufgrund einer Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls vorzunehmen.
In den hier vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall sind die Mieter auf Hilfeleistungen des Jobcenters angewiesen. Mit Schreiben vom 21.10.2013 teilte ihnen das Jobcenter mit, dass der Leistungsbezug ab 1.11.2013 eingestellt werde, was zunächst auch geschah. Infolgedessen blieben die Mieter die Mieten für die Monate November und Dezember 2013 teilweise und für die Monate Januar und Februar 2014 zunächst vollständig schuldig. Die Vermieterin erklärte wegen des eingetretenen Zahlungsverzugs die fristlose und hilfsweise die ordentliche Kündigung und wiederholte die Kündigung in der Klageschrift. Das Jobcenter nahm seinen Aufhebungsbescheid rückwirkend zurück und zahlte die Rückstände noch vor der Zustellung der Räumungsklage vollständig an die Vermieterin. In der Folgezeit kam es zu keinen weiteren Mietrückständen oder sonstigen Vertragsverletzungen seitens der Mieter.
In den Vorinstanzen haben das Amtsgericht Siegburg1 und das Landgericht Bonn2 die Räumungsklage abgewiesen. Das Landgericht Bonn hat in seinem Berufungsurteil angenommen, dass die Vermieterin angesichts der alsbaldigen Tilgung der Rückstände und des allenfalls geringfügigen Verschuldens der Mieter mit Rücksicht auf Treu und Glauben aus der ordentlichen Kündigung keine Rechte mehr herleiten könne. Der Bundesgerichtshof bestätigte dies im Ergebnis:
Die Frage, ob dem Vermieter die Berufung auf eine zunächst wirksame ordentliche Kündigung wegen nachträglich eingetretener Umstände mit Rücksicht auf Treu und Glauben verwehrt ist, entzieht sich allgemeiner Betrachtung. Sie ist vielmehr vom Tatrichter aufgrund der ihm obliegenden Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls vorzunehmen. Die Überlegung des Landgerichts Bonn, es sei angesichts des Umstandes, dass die Schonfristregelung nach geltendem Recht nur für die fristlose Kündigung gelte, angebracht, auch für die ordentliche Kündigung konkrete Regeln dazu aufzustellen, unter welchen Voraussetzungen diese nach einer Begleichung der Rückstände unwirksam werde, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die Schaffung einer solchen Regelung ist dem Gesetzgeber vorbehalten und kann nicht durch den Bundesgerichtshof erfolgen.
Anders als das Landgericht Bonn offenbar meint, können weder der allgemeine Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) noch der von der Rechtsprechung hierzu entwickelte, auf Ausnahmefälle beschränkte Einwand rechtsmissbräuchlichen Verhaltens dazu herangezogen werden, konkrete allgemeine Regeln dazu aufzustellen, unter welchen Voraussetzungen eine innerhalb der Schonfrist des § 569 BGB erfolgte Begleichung der Mietrückstände der Durchsetzung eines Räumungsanspruchs entgegensteht. Dies liefe im praktischen Ergebnis darauf hinaus, die vom Landgericht Bonn – insoweit zu Recht – als unzulässig erachtete analoge Anwendung der Schonfristregelung auf die ordentliche Kündigung doch herbeizuführen. Vielmehr ist die Würdigung, ob angesichts besonderer Umstände des Einzelfalls der Einwand rechtsmissbräuchlichen Verhaltens der Durchsetzung des Räumungsanspruchs ausnahmsweise entgegensteht, der jeweiligen tatrichterlichen, revisionsrechtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Würdigung im konkreten Einzelfall vorbehalten.
Vorliegend ist das Landgericht Bonn nach Ansicht des Bundesgerichshofs rechtsfehlerfrei zu der Beurteilung gelangt, dass hier ein solcher Ausnahmefall vorliegt:
Denn die Mieter haben sich jedenfalls unmittelbar nach Erhalt der ersten Kündigung um eine Rückführung der Mietrückstände bemüht und erreicht, dass die Rückstände innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums und noch vor Zustellung der Räumungsklage vom Jobcenter beglichen wurden. Weiter ist festgestellt, dass es in der Vergangenheit keine Zahlungsrückstände gegeben hat und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass es in der Zukunft noch einmal zu Zahlungsrückständen kommen wird. Ebenso wenig haben die Mieter danach in der Vergangenheit sonstige mietvertraglichen Pflichten verletzt noch liegen Anhaltspunkte für künftige (Fehl)Verhaltensweisen der Mieter vor, die das Vertrauen der Vermieterin in eine gedeihliche Fortsetzung des Mietverhältnisses in Frage stellen könnten.
Selbst wenn man deshalb entgegen der Auffassung des Landgerichts Bonn davon ausgeht, dass bereits die Entstehung der Mietrückstände von gewissen Nachlässigkeiten der Mieter beeinflusst gewesen sein könnte, hält sich die Beurteilung des Landgerichts Bonn, dass der Vermieterin die Durchsetzung des auf die ordentliche Kündigung gestützten Räumungsanspruchs mit Rücksicht auf den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) verwehrt war, angesichts des erfolgreichen Bemühens der Mieter, die Mietzahlung umgehend wieder aufzunehmen und die entstandenen Mietrückstände bereits vor Zustellung der Räumungsklage vollständig zurückzuführen, nach den gesamten Umständen des Falles im Rahmen zulässiger tatrichterlicher Würdigung.
Ein Rechtsfehler ist nicht ersichtlich und wird auch von der Vermieterin nicht aufgezeigt. Soweit die Vermieterin geltend macht, das Verschulden der Mieter, die sich früher und energischer als geschehen gegen die unberechtigte Leistungskürzung hätten wenden müssen, sei nicht als geringfügig zu bewerten, setzt sie lediglich ihre Wertung an die Stelle der tatrichterlichen Würdigung des Landgerichts Bonn.
Bundesgerichtshof, Beschluss vom 6. Oktober 2015 – VIII ZR 321/14