Nachträglicher Bezug von Arbeitslosengeld

Bewilligt ein Leistungsträger während des laufenden Verwaltungsverfahrens und in Kenntnis des Bestehens eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld I Leistungen nach dem SGB II, kann eine Aufhebung dieser Bewilligungsentscheidung nach dem Zufluss von Arbeitslosengeld I nicht auf § 48 SGB X gestützt werden, entschied jetzt das Sozialgericht Karlsruhe.

Die Aufhebungsentscheidung kann nicht auf § 48 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II und § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III gestützt werden. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in bei seinem Erlass vorliegenden tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eine wesentliche Änderung eintritt, unter anderem dann mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben, wenn und soweit der Begünstigte nach seinem Erlass Einkommen erzielt, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X).

Die Klägerin hat in dem jetzt vom Sozialgericht Karlsruhe entschiedenen Fall mit dem Zufluss des auf das Arbeitslosengeld gezahlten Vorschusses in Höhe von 470,16 € am 29.05.2009 zwar Einkommen erzielt. Dieses ist nach dem sog. Zuflussprinzip auch im Monat Mai 2009 zu berücksichtigen (§ 2 Abs. 2 Satz 1 ALG II-Verordnung). Unter Berücksichtigung des zugeflossenen Arbeitslosengeldes I hatte die Klägerin keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II (§ 9 Abs. 1 SGB II).

Gleichwohl konnte die Beklagte ihre Aufhebungsentscheidung nicht auf § 48 SGB X stützen, da der Bewilligungsbescheid vom 13.05.2009 von Beginn an rechtswidrig war und die Voraussetzungen für die Bewilligung von Arbeitslosengeld II nicht erst nachträglich durch den Zufluss des Arbeitslosengeldes I entfallen ist. Denn § 48 SGB X erfasst nur nach ihrem Erlass rechtswidrig gewordene Verwaltungsakte, während sich die Aufhebung von Beginn an rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte nach den in § 45 SGB X normierten Regeln richtet1.

Danach konnte die Beklagte ihre Bewilligungsentscheidung nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X aufheben. Deren anfängliche Rechtswidrigkeit folgt daraus, dass ausschließlich erwerbsfähige Hilfebedürftige Leistungen nach dem SGB II erhalten können (§ 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II). Hilfebedürftig ist jedoch nur, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Mitteln sichern und die erforderliche Hilfe auch nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder Trägern anderer Sozialleistungen erhalten kann (§ 9 Abs. 1 SGB II). Zu den anderen vorrangigen Sozialleistungen gehört auch das nach dem SGB III bewilligte Arbeitslosengeld I2.

Eine entsprechende Bewilligungsentscheidung lag zwar zum Zeitpunkt der Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II noch nicht vor. Der Beklagten waren durch die Antragsunterlagen allerdings die Vorbeschäftigungszeiten der Klägerin, der Vorbezug von Arbeitslosengeld I und der laufende Antrag auf Arbeitslosengeld I bekannt. Es war aus diesen Umständen und unter Berücksichtigung des Vorschussanspruchs gemäß § 42 Abs. 1 Satz 2 SGB I für die Beklagte ohne Weiteres ersichtlich, dass – wie geschehen – mit einer Realisierung des Arbeitslosengeldanspruchs der Klägerin noch im Mai 2009 gerechnet werden konnte. Dies gilt erst Recht vor dem Hintergrund, dass im vorliegenden Fall Arbeitslosengeld I nach einer selbständigen Zwischenbeschäftigung weiterbewilligt wurde und es sich um keine Neubewilligung handelte. Das Bestehen eines Restanspruchs auf Arbeitslosengeld I war der sachbearbeitenden Stelle der Beklagten laut Aktenvermerk vom 13.05.2009 auch positiv bekannt. Im Übrigen wäre es Sache der Beklagten gewesen, im Rahmen der Amtsaufklärung (§ 20 SGB X) bei ihrer Arbeitslosengeld I-Stelle nachzufragen, wie lange die dortige Anspruchsprüfung andauern und wann mit der Aufnahme von Zahlungen bzw. ggf. Vorschüssen zu rechnen war. Dies hat die Beklagte unterlassen und damit die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen nach dem SGB II nicht vollständig geprüft.

Da vorliegend ein gesicherter und alsbald realisierbarer Anspruch auf Arbeitslosengeld I bestand, der als solcher anspruchsmindernd zu berücksichtigen war3 und die Hilfebedürftigkeit bei seiner Erfüllung vollständig entfallen ließ, waren die Voraussetzungen für die erfolgte Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II von Beginn an nicht erfüllt. Die Beklagte hätte bei dieser Sachlage Leistungen nach dem SGB II allenfalls vorläufig (§ 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 a SGB II i.V.m. § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB III) oder als Darlehen (§ 23 Abs. 4 SGB II) erbringen dürfen4. Von diesen gesetzlichen Möglichkeiten hat die Beklagte indes keinen Gebrauch gemacht. Die (endgültige) Bewilligungsentscheidung als verlorener Zuschuss war demgegenüber rechtswidrig.

Im Übrigen lägen die Voraussetzungen für eine Aufhebung des Bescheids vom 13.05.2009 gemäß § 48 SGB X selbst dann nicht vor, wenn die Bewilligungsentscheidung rechtmäßig erfolgt wäre. Denn in diesem Fall hätte die Auszahlung der bewilligten Leistungen nach dem SGB II gemäß § 107 Abs. 1 SGB X Erfüllungswirkung im Hinblick auf den gegenüber diesen vorrangigen (§§ 9 Abs. 1 und 5 Abs. 1 SGB II)5 Anspruch der Klägerin auf Arbeitslosengeld I. Die Beklagte wäre auf einen die Rückabwicklung zwischen ihr und der Klägerin gemäß §§ 48, 50 SGB X ausschließenden6 Anspruch gegen den vorrangig verpflichteten Leistungsträger nach dem SGB III gemäß § 104 SGB X beschränkt. Dieser Anspruch wäre bei rechtmäßiger Bewilligung von Arbeitslosengeld II durch die Beklagte weder durch die Trägeridentität7 noch dadurch ausgeschlossen, dass Arbeitslosengeld I nach den insoweit geltenden Vorschriften (§ 337 Abs. 2 SGB III) rechtzeitig an die Klägerin ausgezahlt wurde8.

Die Beklagte kann ihre Aufhebungsentscheidung auch nicht auf § 45 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II und § 330 Abs. 3 Satz 1 SGB III stützen. Danach darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nur unter denen in § 45 Abs. 2 bis 4 SGB X genannten Voraussetzungen ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Er darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist (§ 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X). Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (§ 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X). Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte nicht berufen, soweit er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat, der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat oder soweit der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Grobe Fahrlässigkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X).

Die hiernach bestehenden Voraussetzungen für eine Aufhebung des Bewilligungsbescheids vom 13.05.2009 liegen nicht vor. Die Klägerin hat die von der Beklagten bewilligten Leistungen verbraucht und kann sich daher auf Vertrauensschutz gemäß § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X berufen. Das Berufen auf Vertrauensschutz ist nicht gemäß § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X ausgeschlossen. Insbesondere hat die Klägerin in ihrem Bewilligungsantrag vollständige Angaben gemacht und musste die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidung auch nicht kennen. Wie die Klägerin glaubhaft versichert hat, hat sie bei der Beklagten nachgefragt, ob ihr für den Monat Mai tatsächlich sowohl Arbeitslosengeld II als auch Arbeitslosengeld I zustehe. Nachdem ihr daraufhin versichert wurde, dass alles seine Richtigkeit habe, musste die Klägerin als Rechtsunkundige nicht damit rechnen, die erhaltenen Leistungen zurückerstatten zu müssen. Vielmehr durfte sie – auch vor dem Hintergrund des von der Beklagten berücksichtigten Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung – davon ausgehen, dass ihr die bewilligten Leistungen zustehen, und diese zum Lebensunterhalt verwenden. Von den bereits dargelegten gesetzlichen Möglichkeiten einer für die Klägerin erkennbaren Einschränkung durch eine vorläufige oder darlehensweise Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II hat die Beklagte keinen Gebrauch gemacht. Unter diesen Voraussetzungen kann der Klägerin das Berufen auf Vertrauensschutz gemäß § 45 Abs. 2 SGB X nicht verwehrt werden.

Mangels rechtmäßiger Aufhebung des Bewilligungsbescheids vom 13.05.2009 ist die Klägerin auch nicht gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X zur Erstattung der erhaltenen Leistungen in Höhe von 336,96 € verpflichtet.

Sozialgericht Karlsruhe, Urteil vom 22. Februar 2010 – S 16 AS 3058/09

  1. vgl. hierzu BSG , Beschluss vom 28.05.1997 – 8 RKn 27/95[]
  2. vgl. BSG , Urteil vom 27.01.2009 – B 14/7b AS 14/07[]
  3. vgl. BSG , Urteil vom 28.08.1997 – 14/10 RKg 11/96, m.w.N.[]
  4. vgl. hierzu BSG , Beschluss vom 23.11.2006 – B 11b AS 17/06; LSG B-W, Urteil vom 17.03.2006 – L 8 AS 4314/05[]
  5. vgl. hierzu Kater , in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 63. Ergl. 2009, § 104 Rdnr. 57 f. m.w.N.[]
  6. vgl. BSG, Urteil vom 22.05.2002 – B 8 KN 11/00 R, m.w.N.[]
  7. vgl. hierzu LSG B-W, Urteil vom 16.06.2009 – L 13 AL 5180/07[]
  8. vgl. hierzu BSG, Urteil vom 28.08.1997 – 14/10 RKg 11/96, m.w.N.[]