Das Sozialgeheimnis und die Datenerhebung bei Dritten

Das Sozialgeheimnis nach § 35 Abs. 1 SGB I wird nach einer Entscheidung des Landessozialgerichts Baden-Württemberg nicht verletzt, wenn die für die Leistungsbewilligung nach dem SGB II erforderlichen Daten nur bei Dritten erhoben werden können.

Nach § 35 Abs. 1 SGB I hat jeder Anspruch darauf, dass die ihn betreffenden Sozialdaten von den Leistungsträgern (§§ 12 Satz 1, 18f. SGB I) nicht unbefugt erhoben, verarbeitet oder genutzt werden (Sozialgeheimnis). Diese Norm begründet einen Anspruch auf Unterlassung von Eingriffen in das Sozialgeheimnis insoweit, als er sich gegen das unbefugte Erheben, Verarbeiten und Nutzen von Sozialdaten richtet, sowie auf Wahrung des Sozialgeheimnisses1, und bezweckt, den Bürger im Hinblick auf die Informationen, die im sozialrechtlichen Verfahren erhoben werden, zu schützen, und zwar sowohl vor unbefugter Übermittlung dieser Daten nach außen (z.B. gegenüber seinem Arbeitgeber) als auch vor unbefugter Weitergabe an andere Verwaltungsträger2. Lässt sich ein Sozialgeheimnis mehreren Inhabern zuordnen, so kann jeder für sich die sich hieraus ergebenden Ansprüche geltend machen3. Sozialdaten sind gemäß § 67 Abs. 1 S. 1 SGB X Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person, die von einer in § 35 Abs. 1SGB X genannten Stelle im Hinblick auf ihre Aufgaben nach diesem Sozialgesetzbuch erhoben, verarbeitet oder genutzt werden. „Einzelangaben“ bedeutet nicht, dass diese Informationen von dem Betroffenen ausgehen müssen; es reicht aus, wenn sie sich auf ihn beziehen oder bezogen werden können4. Eine Erhebung, Verarbeitung und Nutzung von Sozialdaten ist unter den Voraussetzungen des Zweiten Kapitels des SGB X (dort §§ 67 bis 85a) zulässig. Diese Regelungen gehen, wie sich aus § 37 Satz 3 SGB I ergibt, dem Amtsermittlungsgrundsatz nach § 20 SGB X vor5 und werden von § 51b Abs. 1 Satz 1 SGB II ergänzt, wonach die zuständigen Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende laufend die für die Durchführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende erforderlichen Daten erheben. § 35 SGB I steht in engem sachlichen Zusammenhang mit den §§ 60 ff. SGB I über die Mitwirkungspflichten; der umfassende sozialrechtliche Geheimhaltungsanspruch stellt gleichermaßen das Gegenstück zu diesen Mitwirkungspflichten dar6. Insoweit ist zu beachten, dass nach Sinn und Zweck der Norm der in § 67a SGB X normierte Begriff der „Erforderlichkeit“ mit demjenigen der Erheblichkeit im Sinne des § 60 Abs. 1 SGB I korrespondiert; dort, wo die Erhebung der Sozialdaten für die Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben der Sozialleistungsträger gemäß § 67 a Abs. 1 Satz 1 SGB X erforderlich ist, obliegt es dem Hilfeempfänger im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht nach § 60 Abs. 1 SGB I, die für die Leistungen erheblichen Tatsachen anzugeben und auf Verlangen die erheblichen Beweismittel vorzulegen. Beide Begriffe sind Ausdruck des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, an dem sich die Maßnahme des Sozialleistungsträgers messen lassen muss7.

Sozialdaten sind allerdings grundsätzlich beim Betroffenen zu erheben (§ 67a Abs. 2 Satz 1 SGB X) und dürfen ohne seine Mitwirkung nur erhoben werden bei anderen Personen oder Stellen als bei den in § 35 SGB I oder in § 69 Abs. 2 SGB X genannten Stellen, wenn eine Rechtsvorschrift die Erhebung bei ihnen zulässt oder die Übermittlung an die erhebende Stelle ausdrücklich vorschreibt (§ 67a Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 Buchst. a SGB X), die Aufgaben nach diesem Gesetzbuch ihrer Art nach eine Erhebung bei anderen Personen oder Stellen erforderlich machen oder die Erhebung beim Betroffenen einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern würde (§ 67a Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 Buchst. b SGB X) und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass überwiegend schutzwürdige Interessen des Betroffenen beeinträchtigt werden. Die in § 67a Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 Buchst. b SGB X genannte Alternative, dass die Aufgabe nach diesem Gesetzbuch ihrer Art nach eine Erhebung bei anderen Personen oder Stellen erforderlich macht, ist vor allem bei schwieriger Sachverhaltsaufklärung relevant8. Indem sich der beklagte Grundsicherungsträger mit Schreiben vom 12.02.2008 und in den nachfolgenden Telefonaten vom 29.02., 03., 17., und 19.03.2008 an W.F. und den sie vertretenden Haus- und Grundbesitzerverein E. e.V. gewandt und daraufhin die Information erhalten hat, den Klägern sei die Kaution abzüglich offener Nebenkosten sowie Reparaturkosten über rund 550 EUR in Höhe von ca. 2.000 EUR in bar am 14.03.2008 ausbezahlt worden, im Übrigen sei das betreffende Haus in A mit drei Einbauschränken ausgestattet gewesen, hat sie „bei anderen Personen oder Stellen“ im Sinne des § 67a Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 SGB X Daten über die Kläger beschafft, mithin Sozialdaten erhoben (vgl. § 67 Abs. 5 SGB X). Durch die Mitteilung in ihrem Schreiben vom 12.02.2008, dass die Kläger „Leistungen nach dem SGB II“, wie sich aus dem Betreff schlüssig ergibt, bezogen haben, laufend beziehen oder die Gewährung dieser Leistungen zumindest beantragt haben, hat der beklagte Grundsicherungsträger zum persönlichen Lebensbereich der Kläger gehörende Geheimnisse offenbart. Hierzu gehören sämtliche Einzelangaben über persönliche und sachliche Verhältnisse (vgl. § 203 Abs. 2 Satz 2 des Strafgesetzbuches) wie insbesondere die gegenwärtigen gesundheitlichen, wirtschaftlichen und familiären Verhältnisse sowie Tatsachen aus dem bisherigen Leben des Schutzberechtigten9. Der Beklagte hat befugt sowohl die betreffenden Sozialdaten erhoben als auch, damit notwendigerweise einhergehend, den Umstand offenbart, dass die Kläger Leistungen nach dem SGB II bezogen haben, laufend beziehen oder die Gewährung dieser Leistungen zumindest beantragt haben. Der Beklagte wandte sich nämlich mit ihrem Schreiben vom 12.02.2008 erst, nachdem die Kläger in ihrem Widerspruch gegen den Bescheid vom 29.01.2008 erklärt hatten, die für das bisherige Mietverhältnis in A hinterlegte Kaution stünde ihnen aller Voraussicht nach nicht vor Ablauf der sechsmonatigen Prüfungsfrist der W.F., mithin weit nach Fälligkeit der Mietkaution für das Haus in Bad H. zur Verfügung, an den Haus- und Grundbesitzerverein E.10. Aber auch selbst wenn sich die Beklagte zunächst unmittelbar an die Kläger gewandt hätte mit dem Ersuchen, binnen einer ggf. angesichts der Eilbedürftigkeit der Angelegenheit knapp zu bemessenden Frist eine Bescheinigung des Vermieters vorzulegen, woraus sich ergibt, wann und in welcher Höhe dieser beabsichtigt, die Kaution auszuzahlen, wäre sie nicht umhin gekommen, sich unmittelbar an W.F. zu wenden, um aufzuklären, ob und inwieweit A.P. und L.P. einen oder mehrere Schränke in der Wohnung in Bad H. benötigen. Zwar wäre auch in Betracht kommen, im Rahmen der Amtsermittlungspflicht durch Inaugenscheinnahme des betreffenden Hauses in A die Angaben der Kläger hinsichtlich des Vorhandenseins von Einbauschränken zu überprüfen11. Allerdings waren die Kläger bei Antragsstellung (29.02.2008) bereits aus dem Haus in A ausgezogen, so dass in jedem Fall eine Datenerhebung bei W.F. unumgänglich gewesen wäre. Dass die Kläger auf ein entsprechendes Ersuchen der Beklagten hin eine Bescheinigung von W.F. über das Vorhandensein von Einbauschränken in der bisherigen Wohnung in A hätten vorlegen können, haben sie weder behauptet noch ergeben sich hierfür irgendwelche Anhaltspunkte, zumal das Verhältnis zu W.F. nach den Angaben der Kläger schon seinerzeit „gespannt“ gewesen ist.

Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 13. Oktober 2010 – L 3 AS 1173/10

  1. Seewald, Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, 65. Erg.lfg. 2010, § 35 SGB I, Rdnrn. 8, 10[]
  2. Seewald, a.a.O. Rdnr. 2[]
  3. Seewald, a.a.O. Rdnr. 12[]
  4. Seewald, a.a.O. Rdnr. 6 m.w.N.[]
  5. Hessisches LSG, Beschluss vom 22.08.2005 – L 7 AS 32/05 ER[]
  6. BSG, Urteil vom 25.10.1978 – S 1 RJ 32/78, Rdnr. 17 m.w.N.[]
  7. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 14.12.2007 – L 13 AS 4282/07, Rdnr. 21 m.w.N.[]
  8. Rombach in Hauk/Noftz, SGB X, K § 67 a Rdnr. 98, Berlin 2009[]
  9. BSG, Urteil vom 25.10.1978 – S 1 RJ 32/78, Rdnr. 18 m.w.N.[]
  10. vgl. Bieresborn in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010, § 67a Rdnr. 9 [zur Einholung einer Vermieterauskunft][]
  11. vgl. SG Koblenz, Urteil vom 30.05.2007 – S 2 AS 595/06, mit Anm. Luthe in jurisPR-SozR 14/2007[]