Die derzeit im Rahmen des Bezugs von Arbeitslosengeld II bestehende Deckungslücke bei privater Kranken- und Pflegeversicherung ist nach einem Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen verfassungswidrig. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat jetzt in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes die Bremer Arbeitsgemeinschaft für Integration und Soziales (BAgIS) verpflichtet, vorläufig die Kosten für eine private Kranken- und Pflegeversicherung einer Hilfebedürftigen in voller Höhe zu bezuschussen. Die gesetzlich vorgesehene nur anteilige Bezuschussung der entsprechenden Beiträge hält das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen für verfassungswidrig.
Die 1948 geborene Antragstellerin bezieht seit Juni 2009 Arbeitslosengeld II. Zuvor war sie als Inhaberin einer kleinen Reinigungsfirma selbstständig tätig und privat kranken- und pflegeversichert. Aufgrund des 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung1 wurde die Antragstellerin – anders als dies nach früherem Recht der Fall gewesen wäre – mit Beginn des Leistungsbezugs nicht versicherungspflichtig in der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung, sondern blieb kraft Gesetzes Mitglied ihrer privaten Kranken- und Pflegeversicherung.
Bei Beziehern von Arbeitslosengeld II sieht das Versicherungsaufsichtsgesetz eine Reduzierung des sog. Basistarifs in der Kranken- und Pflegeversicherung auf die Hälfte vor. Hieraus ergibt sich für die Zeit seit dem 01.01.2009 eine monatliche Beitragsbelastung für privat kranken- und pflegeversicherte Leistungsbezieher in Höhe von 320,64 €. Der Beitragszuschuss des Grundsicherungsträgers ist in diesen Fällen allerdings auf die für einen Arbeitslosengeld II-Bezieher in der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung zu tragenden Beiträge gesetzlich begrenzt, seit dem 1. Juli 2009 sind dies 142,11 € monatlich.
Dies führt bei Leistungsbeziehern wie der Antragstellerin in dem jetzt vom Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen entschiedenen Verfahrens zu einer monatlichen Deckungslücke in Höhe von 178,53 €; ihr bliebe bei Zahlung der vom Grundsicherungsträger nicht übernommenen Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge aus der Regelleistung (hier: 359,00 €) lediglich noch ein Betrag von 180,47 € pro Monat zur Sicherung des Lebensunterhalts. Dieser Betrag unterschreitet nach Ansicht des Landessozialgerichts die verfassungsrechtliche Untergrenze des sozialrechtlich zu sichernden Existenzminimums eines in der Bundesrepublik Deutschland lebenden alleinstehenden Erwachsenen und stellt das zum Lebensunterhalt Unerlässliche nicht sicher.
Das Landessozialgericht hat sich daher aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Pflicht zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes für berechtigt und verpflichtet gehalten, der Antragstellerin im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig einen Zuschuss in Höhe der tatsächlich zu entrichtenden Beiträge zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung zuzusprechen. Die durch die nur anteilige Bezuschussung entstehende erhebliche Deckungslücke verstößt nach Auffassung des Gerichts gegen die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates zur Sicherstellung des Existenzminimums, welche aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip folgt. Diese vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. als „sozialstaatlich unvertretbare Regelungslücke” bezeichnete Problematik ist bereits Gegenstand zahlreicher Änderungsvorschläge von Sozialverbänden, des Bundesrates und des Deutschen Städtetages, ohne dass der Gesetzgeber bislang eine Korrektur vorgenommen hat.
Nach § 26 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i. V. m. § 12 Abs. 1 c S. 6 Halbs. 2 VAG ist in den Fällen, in denen Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II unabhängig von der Höhe des zu zahlenden Beitrags vorliegt, der Zuschuss des Grundsicherungsträgers zu den Aufwendungen für eine private Krankenversicherung der Höhe nach auf den für einen Bezieher von Arbeitslosengeld II in der gesetzlichen Krankenversicherung zu tragenden Beitrag beschränkt. Eine analoge Anwendung anderer Vorschriften, die die Übernahme der Beiträge zur Krankenversicherung in vollem Umfang vorsehen (§ 12 Abs. 1 c S. 5 VAG, § 26 Abs. 2 Nr. 2 Halbs. 1 SGB II), kommt nicht in Betracht, da keine planwidrige Regelungslücke vorliegt. Aus § 110 Abs. 2 S. 4 Halbs. 2 SGB XI i. V. m. § 12 Abs. 1 c S. 6 VAG ergibt sich, dass auch hinsichtlich der Beiträge zur privaten Pflegeversicherung der Zuschuss des Grundsicherungsträgers auf den Betrag begrenzt ist, der für einen Bezieher von Arbeitslosengeld II in der sozialen Pflegeversicherung zu tragen ist.
Die sich aus § 12 Abs. 1 c S. 6 Halbs. 2 VAG sowie § 110 Abs. 2 S. 4 Halbs. 2 SGB XI ergebende Begrenzung des Beitragszuschusses zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung für SGB II-Leistungsbezieher, die unabhängig von der Höhe des zu leistenden Beitrags hilfebedürftig sind, auf insgesamt 142,11 € (ab 1. Juli 2009) verstößt gegen die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates zur Sicherstellung des Existenzminimums. Denn die 178,53 € betragende Differenz zwischen den gewährten Beitragszuschüssen einerseits und dem tatsächlich zu entrichtenden Beitrag andererseits kann nicht aus der Regelleistung nach § 20 SGB II bestritten werden.
Der Hilfebedürftige kann nicht darauf verwiesen werden, eine Gefährdung seines Existenzminimums dadurch abzuwenden, dass er Beiträge zur privaten Kranken- und Pflegeversicherung zukünftig nur noch in Höhe des Zuschusses des Grundsicherungsträgers zahlt und dadurch monatliche Beitragsschulden bei seinem Krankenversicherungsunternehmen i. H. v. 178,53 € anhäuft.
Der Anspruch des Hilfebedürftigen auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) gebietet es im vorliegenden Fall, bereits im Eilverfahren zur Abwendung wesentlicher Nachteile für den Hilfebedürftigen eine einstweilige Anordnung über die Gewährung vorläufiger Leistungen gemäß § 86 b Abs. 2 S. 2 SGG zu treffen. Die Fachgerichte sind durch das dem Bundesverfassungsgericht vorbehaltene Verwerfungsmonopol nach Art. 100 Abs. 1 GG nicht daran gehindert, schon vor der im Hauptsacheverfahren einzuholenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf der Grundlage ihrer Rechtsauffassung vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn dies nach den Umständen des Falles im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und die Hauptsacheentscheidung dadurch nicht vorweggenommen wird2.
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 3. Dezember 2009 – L 15 AS 1048/09 B ER