Grundsicherung für die Ex-EU-Prostituierte

Auch wenn ein Unionsbürger seine Tätigkeit in der Prostitution willentlich aufgibt, liegt keine freiwillige Aufgabe einer Erwerbstätigkeit im Sinne von § 2 Abs. 3 FreizügG/EU vor, die zu einem Fortfall des Aufenthaltsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU und einem Leistungsausschuss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II führt. Eine Arbeit in der Prostitution ist stets unzumutbar im Sinne von § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB II und kann wegen dieser Unzumutbarkeit jederzeit aufgegeben werden, ohne dass es sich um eine freiwillige Aufgabe im Sinne von § 2 Abs. 3 FreizügG/EU handelt.

Einer aus einem anderen EU-Mitgliedsstaat stammenden Prostituierten, die ihr Gewerbe selbst aufgegeben hat, stehen mithin die Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (ALG II) zu.

Das Erbringen sexueller Dienstleistungen kann als selbständige Tätigkeit ein EU-Aufenthaltsrecht in Deutschland vermitteln. Es berührt jedoch in besonderer Weise die Intimsphäre und damit die Menschenwürde der Prostituierten und ist grundsätzlich unzumutbar. Das Aufgeben der Prostitution stellt deshalb keine freiwillige, selbstverschuldete Beendigung der Erwerbstätigkeit im Sinne der Vorschriften zum EU-Freizügigkeitsrecht dar. Die 32jährige bulgarische Bulgarin behält aus diesem Grunde ihr Aufenthaltsrecht als ehemalige Selbständige, obwohl sie ihre Tätigkeit bewusst aufgegeben hat. Sie hat damit weiterhin Zugang zu Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende.

Bürgerinnen und Bürger aus der Europäischen Union dürfen sich zwar zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten. Sie sind jedoch von Jobcenter-Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossen, wenn sich ihr Aufenthaltsrecht nur auf diese Arbeitsuche stützt. Wer hingegen als Arbeitnehmer oder Selbständiger aufenthaltsberechtigt ist, kann aufstockend Leistungen beziehen. Das Aufenthaltsrecht besteht auch nach Beendigung der Tätigkeit fort, sofern die Arbeitslosigkeit unfreiwillig eingetreten ist bzw. die Beendigung der selbständigen Tätigkeit auf Umständen beruht, die die selbständige Person nicht maßgeblich beeinflussen kann und die es ihr unmöglich oder unzumutbar machen, die Tätigkeit fortzuführen. Vor diesem Hintergrund kommt es vor den Sozialgerichten immer wieder zum Streit zwischen Jobcentern und Personen aus der EU um Umfang und Ausgestaltung von Arbeitsverhältnissen und selbständigen Tätigkeiten und um die Umstände, die zu deren Ende geführt haben.

In dem hier vom Sozialgericht Berlin entschiedenen hatte eine 1990 geborene Bulgarin geklagt, die 2014 nach Berlin kam und hier steuerlich gemeldet auf dem Straßenstrich als selbständige Prostituierte tätig war. Im Juli 2019 gab sie die Tätigkeit auf, da sie mit ihrem zweiten Kind schwanger war und die Tätigkeit für sich als nicht mehr zumutbar empfand. Bis September 2020 bezog sie Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes vom beklagten Jobcenter Berlin-Lichtenberg. Eine Weiterbewilligung lehnte das Jobcenter mit der Begründung ab, die Bulgarin habe nur noch ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche und sei deshalb vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Es fehle insbesondere an einer unfreiwilligen Arbeitsaufgabe, da sie sich bewusst und freiwillig entschieden habe, sich beruflich neu zu orientieren.

Auf die von der Ex-Prostituierte hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Berlin das Jobcenter erurteilt, der Bulgarin und ihren beiden 2008 und 2020 geborenen Kindern für Oktober 2020 bis Mai 2022 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes zu gewähren:

Als EU-Bürgerin habe die Bulgarin durch ihre selbständige Tätigkeit als Prostituierte ein Aufenthaltsrecht in Deutschland erworben. Dieses habe auch nach Beendigung der Tätigkeit fortbestanden, da diese unfreiwillig erfolgt sei. Es könne objektiv keinem Menschen zugemutet werden, sich unter den von der Bulgarin in der mündlichen Verhandlung geschilderten Bedingungen des Berliner Straßenstrichs zu prostituieren. Doch auch generell sei die willentliche Beendigung der Prostitution keine freiwillige Aufgabe der Erwerbstätigkeit. Das Erbringen sexueller Dienstleistungen berühre die Intimsphäre und die Menschenwürde der betroffenen Person in besonderer Weise. Aus der staatlichen Schutzpflicht für die Menschenwürde folge, dass Prostitution als unzumutbar anzusehen sei und von der betroffenen Person nicht ausgeübt werden müsse, um die Hilfebedürftigkeit zu verringern. Beende ein Unionsbürger seine Tätigkeit in der Prostitution, weil er die Tätigkeit als nicht zumutbar empfindet, beruhe die Aufgabe der Tätigkeit auf der Unzumutbarkeit der Prostitution an sich und damit auf Umständen, die er nicht zu vertreten habe.

Dem lasse sich nicht entgegenhalten, dass die betreffende Person die Arbeit zuvor ausgeübt habe. Eine objektiv unzumutbare Arbeit, deren Ausübung der Staat von niemandem verlangen kann, werde nicht deshalb zumutbar, weil die Person sie zeitweise ertragen hat.

Wegen des fortwirkenden Aufenthaltsrechts aus ihrer ehemaligen selbständigen Tätigkeit hat die Bulgarin nicht nur ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche. Sie und ihre Kinder sind deshalb auch nicht von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch ausgeschlossen.

Sozialgericht Berlin, Urteil vom 15. Juni 2022 – S 134 AS 8396/20