Verwertbarkeit des Rückkaufswertes einer Lebensversicherung

Bleibt bei der Verwertung einer Lebensversicherung der Rückkaufswert um ca 8,3% hinter den eingezahlten Beiträgen zurück, liegt keine Härte im Sinne des § 90 III 1 SGB XII vor.

In dem hier vom Sozialgericht Karlsruhe entschiedenen Rechtsstreit hat die Klägerin während des Leistungszeitraums über Vermögen in einem Rückkaufswert von über 9.000,– € in Form einer Versicherungspolice verfügt. Diese Lebensversicherung der Klägerin fällt unter keine der in § 90 Abs. 2 SGB XII aufgeführten Fallgruppen. Insbesondere sind die Voraussetzungen von § 90 Abs. 2 Nr. 2 SGB XII nicht erfüllt. Danach darf die Sozialhilfe nicht abhängig gemacht werden vom Einsatz oder von der Verwertung eines Kapitals einschließlich seiner Erträge, dass der zusätzlichen Altersvorsorge im Sinne des § 10a oder des Abschnitts XI des Einkommensteuergesetzes dient und dessen Ansammlung staatlich gefördert wurde1. In der Begründung des Gesetzentwurfes zu der entsprechenden Vorschrift nach § 12 Abs. 2 Nr. 2 SGB II wird insoweit ausdrücklich auf die „Riester-Anlageformen“2 hingewiesen. Ob auch andere Vorsorgeformen von der Regelung erfasst werden3, kann hier dahinstehen. Denn bei der von der Klägerin abgeschlossenen Lebensversicherung handelt es sich jedenfalls nicht um nach Bundesrecht ausdrücklich als Altersvorsorge gefördertes Vermögen. Erforderlich ist insoweit nach geltendem Recht zumindest, dass der Sicherung ein nach § 5 des Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetzes4 durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht zertifizierter Altersvorsorgevertrag zu Grunde liegt5. Das ist hier nicht der Fall.

Die Klägerin ist auch nicht aus Gründen der Gleichbehandlung im Hinblick auf die Lebensversicherung denjenigen Personen gleichzustellen, die über eine den Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 Nr. 2 SGB XII entsprechende Altersvorsorge verfügen. Die Privilegierung des nach Bundesrecht ausdrücklich als Altersvorsorge geförderten Vermögens gegenüber anderen Anlageformen wie der hier vereinbarten Kapitalversicherung auf den Todes- und Erlebensfall stellt keine verfassungswidrige Ungleichbehandlung im Sinne von Artikel 3 Abs. 1 GG dar. Artikel 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Dieses Grundrecht ist dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Verhältnis zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten6. Derartige Unterschiede zwischen den aufgezeigten Gruppen von Normadressaten sind hier im Hinblick auf die gewählte Versicherungsform gegeben. Durch § 90 Abs. 2 Nr. 2 SGB XII soll das in die Altersvorsorge investierte Vermögen geschützt werden. In gewissen Grenzen soll daher weder ausdrücklich für die Altersvorsorge zweckgebundenes Vermögen zur Sicherung des Lebensunterhalts herangezogen werden noch die Chance zum weiteren Aufbau einer bereits vorhandenen Alterssicherung verwehrt werden. Zur Wahrung dieses Gesetzeszwecks erfolgt die Anknüpfung des Schutzes des entsprechenden Vermögens an die gesetzlich vorgegebenen Fördervorschriften. Während der Abschluss dieser privaten Kapitalversicherung auf den Todes- und Erlebensfall des Klägers insoweit an keinerlei zwingende Voraussetzungen geknüpft war, erfolgt die staatliche Förderung der Sicherungsformen des § 90 Abs. 2 Nr. 2 SGB XII nur dann, wenn sie zertifiziert sind und ihre Zweckbestimmung zur Altersvorsorge öffentlich überwacht wird. Dadurch wird sichergestellt, dass die Versicherung auch tatsächlich der Altersvorsorge dient und nicht, wie bei „einfachen“ Kapitalversicherungen möglich, das „angesparte“ Kapital grundsätzlich jederzeit zur Deckung eines auftretenden Bedarfs – wenn auch mit Verlust – herangezogen werden kann. Letzteres ist vorliegend im Juni/Juli 2008 dann ja auch geschehen.

Das Lebensversicherungsvermögen der Klägerin ist deshalb jenseits der nach § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 1 a der Verordnung zur Durchführung des § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII vom 15. Februar 1988 zu beachtenden Freibetragsgrenze von 1.600,– € vorrangig zum Lebensunterhalt einzusetzen gewesen.

Bei dem zwischen den Beteiligten in Streit stehenden Vermögen handelt es sich schließlich auch nicht um härtefallgeschütztes Vermögen im Sinne von § 90 Abs. 3 SGB XII. Danach darf die Sozialhilfe nicht vom Einsatz oder der Verwertung eines Vermögens abhängig gemacht werden, soweit dies insbesondere für den, der das Vermögen einzusetzen hat, eine Härte bedeuten würde. Nach Satz 2 dieses Absatzes ist dies bei Leistungen nach dem Fünften bis Neunten Kapitel SGB XII insbesondere der Fall, soweit eine angemessene Lebensführung oder die Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung wesentlich erschwert würde. Diese Sonderregelung greift hier bereits deshalb nicht ein, weil vorliegend Leistungen nach dem Dritten Kapitel und nicht nach dem Fünften bis Neunten Kapitel SGB XII in Streit stehen7.

Es liegt aber auch keine allgemeine Härte im Sinne des § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB XII vor. Bereits aus dem systematischen Zusammenhang zwischen den beiden Sätzen des § 90 Abs. 3 SGB XII ist zu entnehmen, dass allein die von der Klägerin behauptete Zweckbestimmung der Alterssicherung im Rahmen der Gewährung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung keine Härte zu begründen vermag. Von einer Härte kann insoweit nicht schon dann ausgegangen werden, wenn eine angemessene Lebensführung oder eine angemessene Alterssicherung gefährdet ist, sondern erst, wenn nach Lage des Einzelfalls der Vermögenseinsatz unzumutbar erscheint, wobei auf den aktuellen und künftigen sozialhilferechtlichen Bedarf und nicht auf die bisherige Lebensführung abzustellen ist8. Zusammenfassend gesagt muss es sich um einen atypischen Lebenssachverhalt handeln, dem der Gesetzgeber mit den Regelvorschriften des § 90 Abs. 1 und 2 SGB XII nicht gerecht zu werden vermochte9. Ein solcher atypischer Lebenssachverhalt ist auch nach dem Klägervorbringen auch im Klageverfahren vorliegend nicht erkennbar.

Eine Härte im Sinne des § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB XII liegt auch nicht deshalb vor, weil die Verwertung der Lebensversicherung unwirtschaftlich gewesen wäre, da der Rückkaufwert von 9.631,10 € hinter den bis zu diesem Zeitpunkt eingezahlten Beiträgen in Höhe von 10.494,57 € zurückgeblieben ist. Denn selbst nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit der Verwertung von Kapitallebensversicherungen im Rahmen der Arbeitslosenhilfe und seit 2005 im Rahmen des SGB II wäre der wirtschaftliche Verlust nicht geeignet gewesen, den Verwertungszwang auszuschließen. So liegt nach dieser Rechtsprechung eine offensichtliche Unwirtschaftlichkeit im Sinne des § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 SGB II erst dann vor, wenn der mit der Verwertung zu erzielende Gegenwert in einem deutlichen Missverhältnis zum wirklichen Wert des Vermögensgegenstandes steht10. Dabei hat es das Bundessozialgericht bisher vermieden, eine absolute Grenze für die offensichtliche Unwirtschaftlichkeit der Verwertung einer Lebensversicherung festzulegen. Allerdings ist den bisherigen Entscheidungen einerseits zu entnehmen, dass diese Grenze jedenfalls dann noch nicht erreicht ist, wenn der Rückkaufwert um 12,9 % hinter den eingezahlten Beiträgen zurückbleibt, und dass andererseits bei einem Verlust von 18,5 % Zweifel an der Wirtschaftlichkeit bestehen können11. Da vorliegend der Rückkaufwert „nur“ um knapp 8,23 % hinter der Summe der eingezahlten Beiträge zurück geblieben ist, ist auch nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts die Grenze der offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit i.S. des § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 SGB II noch nicht erreicht. Aber selbst wenn dies der Fall sein sollte, kann diese Rechtsprechung nicht eins zu eins auf die Auslegung des Merkmals der Härte im Rahmen des § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB XII übertragen werden12. Denn zum einen fehlt in § 90 Abs. 3 SGB XII das als Anknüpfungspunkt der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 SGB II dienende Merkmal der „offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit“. Zum anderen sollte bei Einführung des SGB XII die bisherige Regelung des § 88 BSHG im Wesentlichen inhaltsgleich in § 90 SGB XII übertragen werden13, was auch als Anknüpfung an die bisherige Rechtsprechung verstanden werden kann. Das Gericht kann dabei offen lassen, ob die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Verwertbarkeit von Kapitallebensversicherungen, wonach eine Härte im Sinne des § 88 Abs. 3 BSHG auch für den Fall abgelehnt wird, dass der Rückkaufwert um mehr als die Hälfte hinter den eingezahlten Beiträgen zurück bleibt14, uneingeschränkt auch für den Bereich des SGB XII zu übernehmen ist. Jedoch legen die aufgezeigten Gesichtspunkte eine vom SGB II abweichende, im SGB XII weitergehende Verwertungsobliegenheit nahe. Dies begründet in Anbetracht des dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung von Sozialleistungen zustehenden Gestaltungsspielraums auch keinen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz mit der Folge, dass die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zur Schonung von Vermögen nach dem SGB II uneingeschränkt übertragen werden müsste15, zumal sich der Kreis der Leistungsberechtigten nach dem SGB II und nach dem Vierten Kapitel SGB XII im Hinblick auf das das SGB II prägende (vgl. § 1 Abs. 1 SGB II16) Ziel der kurzfristigen Reintegration in den Arbeitsmarkt wesentlich unterscheidet.

Sozialgericht Karlsruhe, Urteil vom 27. Januar 2011 – S 4 SO 3716/09

  1. vgl. hierzu: Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII (2. Aufl., 2008), § 90 SGB XII Rn. 18; Zeitler, in: Mergler/Zink, SGB XII (Stand: 12. Erg.-Lfg., September 2008), § 90 Rn. 30 f.; Brühl/Geiger, in: LPK-SGB XII (8. Aufl., 2008), § 90 Rn. 29 zu § 12 Abs. 2 Nr. 2 SGB II: Mecke, in: Eicher/Spellbrink, SGB II (2. Aufl., 2008), § 12 Rn. 44[]
  2. BT-Drucks. 15/1516 S. 53[]
  3. vgl. hierzu: Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz, SGB II (Stand: 23. Erg.-Lfg., September 2008), § 12 Rn. 143; Radüge, in: JURIS PK-SGB II (2. Aufl., 2007), § 12 Rn. 6[]
  4. Gesetz über die Zertifizierung von Altersvorsorge- und Basisrentenverträgen (Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetz – AltZertG) vom 26.06.2001, BGBl. I 1310, 1322; geändert durch Artikel 23 des Gesetzes vom 19.12.2008, BGBl. I S. 2794[]
  5. ebenso: Hessisches LSG, Urteil vom 21.05.2010, L 7 SO 78/06[]
  6. BVerfG, Urteil vom 07.07.1992 – 1 BvL 51/86, 1 BvL 50/87, 1 BvR 873/90, 1 BvR 761/91, BVerfGE 87, 1 (36) = SozR 3-5761 Allg. Nr. 1; BVerfG, Beschluss vom 08.04.1998 – 1 BvL 16/90, BVerfGE 98, 1 = SozR 3-5755 Art. 2 § 27 Nr. 1; Jarrass/Pieroth, GG (9. Aufl., 2007), Art. 3 Rn. 4 ff.[]
  7. vgl. auch LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 12.08.2009 – L 8 B 4/07 SO[]
  8. Brühl/Geiger in LPKH-SGB XII, 8. Aufl., § 90 Rn. 69; Hessisches LSG, a. a. O.[]
  9. vgl. BVerwG, Urteil vom 26.01.1966 – V C 88.64, BVerwGE 23, 149, 158 f.[]
  10. BSG, Urteil vom 06.09.2007 – B 14/7b AS 66/06 R – BSGE 99, 77 ff = SozR 4-4200 § 12 Nr. 5[]
  11. BSG, a.a.O., m.w.N.; Urteil vom 15.04.2008 – B 14/7b AS 68/06 R[]
  12. so auch Bayerisches LSG, Beschluss vom 14.06.2005 – L 11 B 206/05 SO ER, FEVS 57, 69 ff; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.02.2008 – L 2 SO 233/08 ER-B, FEVS 59, 572 ff., jeweils m.w.N.; offengelassen BSG, Urteil vom 18.03.2008 – B 8/9b SO 9/06 R, SozR 4-3500 § 90 Nr. 3[]
  13. BT-Drucks. 15/1514 S. 66 zu § 85 des Entwurfs[]
  14. BVerwG, Urteil vom 19.12.1997 – 5 C 7/96, BVerwGE 106, 105 ff m.w.N.[]
  15. vgl. BVerwG, Urteil vom 13.05.2004 – 5 C 3/03, BVerwGE 121, 34 ff.[]
  16. BT-Drucks. 15/1516 S. 2, 44[]