Für die Weiterbewilligung von Arbeitslosengeld II ist ein Fortzahlungsantrag erforderlich. Einem ALG II-Bezieher kann jedoch ein Leistungsanspruch auf Grund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zustehen, weil der Grundsicherungsträger es pflichtwidrig unterlassen hat, ihn zeitnah vor dem Ende des vorhergehenden Bewilligungszeitraums auf die Notwendigkeit der erneuten Beantragung von Leistungen hinzuweisen. Eine derartige Nebenpflicht des Grundsicherungsträgers ergibt sich aus dem Sozialrechtsverhältnis, das durch die Leistungsgewährung im unmittelbar vorhergehenden Zeitraum begründet worden ist sowie der konkreten Situation im vorliegenden Fall:
Im hier vom Bundessozialgericht entschiedenen Fall hatte der beklagte Grundsicherungsträger die Leistungen für den Bewilligungszeitraum ab dem 01.07.2005 ohne Fortzahlungsantrag des Klägers bewilligt und den Kläger im Bescheid für diesen Bewilligungszeitraum lediglich gebeten für den Fall des Weiterbestehens der Hilfebedürftigkeit rechtzeitig einen Fortzahlungsantrag zu stellen. In dieser Lage oblagen der Beklagten verstärkte Beratungs- und Hinweispflichten.
Dem ALG II-Bezieher (Kläger) könnte für den streitigen Zeitraum ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch zur Seite stehen. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch hat zur Voraussetzung1, dass der Sozialleistungsträger eine ihm aufgrund des Gesetzes oder eines Sozialrechtsverhältnisses obliegende Pflicht, insbesondere zur Beratung und Auskunft (§§ 14, 15 SGB I), verletzt hat. Ferner ist erforderlich, dass zwischen der Pflichtverletzung des Sozialleistungsträgers und dem Nachteil des Betroffenen ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Schließlich muss der durch das pflichtwidrige Verwaltungshandeln eingetretene Nachteil durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden können. Die Korrektur durch den Herstellungsanspruch darf dem jeweiligen Gesetzeszweck nicht widersprechen2.
Der beklagte Grundsicherungsträger hat es vorliegend pflichtwidrig unterlassen, den Kläger über die Erforderlichkeit eines Antrags auf Fortzahlung von ALG II in zeitlichem Zusammenhang mit dem Ende des letzten Bewilligungszeitraums hinzuweisen. Dabei erschöpft sich die Beratungspflicht des Jobcenters im konkreten Fall nicht in einer Bitte, bei Fortbestehen der Hilfebedürftigkeit rechtzeitig einen Antrag auf Weiterzahlung zu stellen. Aus dem Sozialrechtsverhältnis zwischen dem Grundsicherungsträger und dem Hilfebedürftigen folgt vielmehr die Verpflichtung – wie sie auch in den Fachlichen Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit unter Ziffer 37.11a ihren Niederschlag gefunden hat -, den Leistungsempfänger von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vor dem Ende des letzten Bewilligungszeitraums darauf aufmerksam zu machen, dass eine Fortzahlung der Leistungen von einer Antragstellung abhängig ist und erst der Antrag die Leistungsgewährung auslöst, wenn das Antragserfordernis für den Leistungsempfänger nicht offensichtlich sein muss. So liegt der Fall hier.
Rechtsgrundlage für die Beratungspflicht in Form einer Hinweispflicht sind §§ 14, 15 SGB II. Eine umfassende Beratungspflicht des Sozialversicherungsträgers bzw. des Sozialleistungsträgers besteht zunächst regelmäßig bei einem entsprechenden Beratungs- und Auskunftsbegehren des Leistungsberechtigten3. Ausnahmsweise besteht nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgericht auch dann eine Hinweis- und Beratungspflicht des Leistungsträgers, wenn anlässlich einer konkreten Sachbearbeitung in einem Sozialrechtsverhältnis dem jeweiligen Mitarbeiter eine naheliegende Gestaltungsmöglichkeit ersichtlich ist, die ein verständiger Versicherter/Leistungsberechtigter wahrnehmen würde, wenn sie ihm bekannt wäre4. Dabei ist die Frage, ob eine Gestaltungsmöglichkeit klar zu Tage liegt, allein nach objektiven Merkmalen zu beurteilen5. Eine derartige Situation liegt hier vor.
Es ist – auch im zeitlich befristeten Leistungsbezug – von einem bestehenden Sozialrechtsverhältnis auszugehen. Zum Leistungsrecht der Bundesagentur für Arbeit nach dem SGB III hat das Bundessozialgericht entschieden, dass ein solches Sozialrechtsverhältnis bereits durch die Arbeitslosmeldung bzw die Antragstellung bei der Bundesagentur für Arbeit entsteht6. Selbst wenn, wie in der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom selben Tag7 dargelegt, der Arbeitslosmeldung bzw. den Anträgen im Bereich von SGB III und SGB II unterschiedliche rechtliche Bedeutung zukommt, so ist eine derartige Beratungspflicht jedoch einerseits bereits der gesetzlichen Konzeption des SGB II, insbesondere dem Grundsatz des Forderns und Förderns und der Ableitung des Existenzsicherungsanspruchs aus Art. 1 Abs 1 i.V.m. Art. 20 Abs 1 GG8 und andererseits der konkreten Situation im vorliegenden Fall geschuldet.
Der beklagte Grundsicherrngsträger hat in dem hier vom Bundessozialgericht entschiedenen Fall im Bescheid vom 23.5.2005 für den Zeitraum nach dem 31.12.2005 um eine rechtzeitige Beantragung von Leistungen für den Fall des Fortbestehens von Hilfebedürftigkeit „gebeten“. Darauf, dass im Falle des Fortbestehens der Hilfebedürftigkeit über den Bewilligungszeitraum hinaus Leistungen nur auf einen Fortzahlungsantrag hin und erst ab dem Zeitpunkt des Eingangs des Antrags beim Grundsicherungsträger zu gewähren sind, hat er den Kläger nicht hingewiesen. Dieses wäre jedoch erforderlich gewesen, weil er die Leistungen für den Bewilligungszeitraum beginnend am 01.07.2005 ohne einen Fortzahlungsantrag gewährt hatte. Der Kläger konnte mithin nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass der Fortzahlungsantrag konstitutive Wirkung hat. Durch sein Verhalten hat der Grundsicherungsträger vielmehr den gegenteiligen Eindruck vermittelt. Zudem ist, wenn in einem vorhergehenden Bewilligungsabschnitt Leistungen bezogen worden sind – mit Ausnahme weniger besonders gelagerter Fälle – auch ein Begehren auf Fortzahlung der Leistungen immer als eine naheliegende Gestaltungsmöglichkeit eines verständigen Leistungsbeziehers in Betracht zu ziehen.
Die erforderliche Beratung hat der beklagte Grundsicherungsträger im vorliegenden Fall zwar unterlassen. Für sich genommen steht damit jedoch noch nicht fest, dass der Kläger deswegen im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen wäre, als habe er rechtzeitig die Fortzahlung des Alg II beantragt. Denn ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch setzt die Kausalität der Pflichtverletzung zum eingetretenen sozialrechtlichen Schaden voraus9, konkret also, dass der Kläger dann, wenn er den Hinweis – entsprechend den obigen Anforderungen – erhalten hätte, den Antrag rechtzeitig gestellt hätte10. Insoweit trägt der Kläger die negative Feststellungslast (Beweislast). War der Kläger z.B. auch ohne einen entsprechenden Hinweis über die Erforderlichkeit einer Antragstellung informiert, könnte dies dagegen sprechen, dass er auf einen Hinweis den Antrag tatsächlich gestellt hätte.
Bundessozialgericht, Urteil vom 18. Januar 2011 – B 4 AS 29/10 R
- vgl. u.a. BSG, Urteil vom 31.10.2007 – B 14/11b AS 63/06 R, SozR 4-1200 § 14 Nr 10[↩]
- vgl. zum Lohnsteuerklassenwechsel BSG, Urteil vom 01.04.2004 – B 7 AL 52/03 R, BSGE 92, 267, 279 = SozR 4-4300 § 137 Nr 1 mit zahlreichen weiteren Nachweisen[↩]
- vgl BSG, Urteile vom 17.08.2000 – B 13 RJ 87/98 R; und vom 14.11.2002 – B 13 RJ 39/01 R, SozR 3-2600 § 115 Nr 9[↩]
- BSG, Urteil vom 08.02.2007 – B 7a AL 22/06 R; ständige Rechtsprechung des BSG; vgl. BSG, Urteile vom 27.07.2004 – B 7 SF 1/03 R, SozR 4-1200 § 14 Nr 5 mit Anm Münder, SGb 2005, 239; vom 10.12.2003 – B 9 VJ 2/02 R, BSGE 92, 34 = SozR 4-3100 § 60 Nr 1; vom 14.11.2002 – B 13 RJ 39/01 R, SozR 3-2600 § 115 Nr 9 mit Anm Köhler, SGb 2003, 407; vom 05.04.2000 – B 5 RJ 50/98 R, SozR 3-1200 § 14 Nr 29 mit Anm Hase, SGb 2001, 593; vom 05.08.1999 – B 7 AL 38/98 R, SozR 3-4100 § 110 Nr 2; vom 26.10.1994 – 11 RAr 5/94, SozR 3-1200 § 14 Nr 16; vom 06.05.1992 – 12 RK 45/91, SozR 3-1200 § 14 Nr 6 S 13; und vom 22.10.1998 – B 5 RJ 56/97 R – SGb 1999, 26[↩]
- BSG Urteil vom 26.10.1994 – 11 RAr 5/94, SozR 3-1200 § 14 Nr 16[↩]
- BSG, Urteile vom 08.02.2007 – B 7a AL 22/06 R, BSGE 98, 108 = SozR 4-4300 § 324 Nr 3; vom 26.10.1976 – 12/7 RAr 78/74, SozR 4100 § 44 Nr 9 S 28; und vom 01.04.2004 – B 7 AL 52/03 R, BSGE 92, 267, 269 = SozR 4-4300 § 137 Nr 1[↩]
- BSG, Urteil vom 18.01.2001 – B 4 AS 99/10 R[↩]
- vgl BSG, Urteile vom 31.10.2007 – B 14/11b AS 63/06 R, SozR 4-1200 § 14 Nr 10; und vom 27.07.2004 – B 7 SF 1/03 R, SozR 4-1200 § 14 Nr. 5[↩]
- vgl. z.B. BSG, Urteil vom 23.05.1996 – 13 RJ 17/95, SozR 3-5750 Art 2 § 6 Nr 15 S 52[↩]
- BSG, Urteil vom 26.07.2007 – B 13 RJ 4/06 R, SozR 4-2600 § 115 Nr. 2[↩]






