Bemessung des Arbeitslosengeldes

Das fiktive Arbeitsentgelt wird ausgehend von den Verhältnissen bestimmt, die zum Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld vorliegen. Es ist also der Wert der Bezugsgröße West 2007 für den gesamten streitigen Zeitraum und nicht nur für die Zeit zum 31.12.2007 zugrunde zu legen.

So ein Urteil des Bundessozialgerichts. Hier streiten die Beteiligten im Revisionsverfahren darüber, ob dem Kläger für die Zeit vom 1.10.2007 bis 16.3.2008 höheres Arbeitslosengeld unter Zugrundelegung der Bezugsgröße West zusteht.

Gemäß § 132 Abs 2 Satz 2 Nr 1 SGB III ist bei der Qualifikationsgruppe 1 ein Arbeitsentgelt in Höhe von einem Dreihundertstel der Bezugsgröße zugrunde zu legen. Die dabei maßgebliche Bezugsgröße West für das Jahr 2007 beträgt 29400,00 Euro1; hieraus errechnet sich für die streitige Zeit ab 1.10.2007 bis 16.3.2008 der Betrag von 98,00 Euro (= ein Dreihundertstel der Bezugsgröße West). Entgegen der Rechtsansicht des Landessozialgerichts ist dieser Wert der Bezugsgröße West für den gesamten Zeitraum zugrunde zu legen.

Die in den angefochtenen Bescheiden der Beklagten vorgenommene Bemessung nach der niedrigeren Bezugsgröße Ost ist rechtswidrig. Sie lässt sich nicht auf § 408 Nr 1 SGB III iVm § 132 SGB III stützen. Nach § 408 Nr 1 SGB III ist, soweit Vorschriften dieses Buches bei Entgelten oder Beitragsbemessungsgrundlagen an die Bezugsgröße anknüpfen, die Bezugsgröße für das in Art 3 des Einigungsvertrags genannte Gebiet (Beitrittsgebiet) maßgebend, wenn der Beschäftigungsort im Beitrittsgebiet liegt.

Wie bereits das Bundessozialgericht2 ausgeführt hat, stellt § 408 Nr 1 SGB III erkennbar auf das Entgelt aus einer ausgeübten Beschäftigung ab, was durch die Bezugnahme auf den konkreten Beschäftigungsort (§ 9 SGB IV) deutlich wird. Wie in der genannten Entscheidung weiter ausgeführt wird, geht es bei der Anwendung des § 132 SGB III jedoch nicht um das früher erzielte Entgelt, sondern darum, auf welche Tätigkeit die Beklagte ihre Vermittlungsbemühungen zu erstrecken hat. Daraus wurde gefolgert, dass die Ausgangslage beider Vorschriften nicht identisch sei und sich damit auch eine generelle analoge Anwendung verbiete. Dieser Rechtsprechung schließt sich hier das Bundessozialgericht an.

Soweit die Beklagte dieser Rechtsprechung entgegenhält, der Kläger habe nicht nur seine Ausbildung in den neuen Bundesländern (im Beitrittsgebiet) zurückgelegt, sondern im Zeitpunkt der Alg-Antragstellung seinen Wohnsitz im Beitrittsgebiet gehabt, und demzufolge sei die zuständige Agentur (vgl § 327 Abs 1 SGB III) – trotz der uneingeschränkten Vermittlungsbereitschaft des Klägers – gemäß § 121 Abs 4 SGB III zunächst zu einer wohnortnahen Vermittlung, also zur Vermittlung im Tagespendelbereich um seinen bisherigen Wohnsitz, gehalten gewesen, vermag diese Argumentation nicht zu überzeugen.

Nach den von der Beklagten nicht mit zulässigen Verfahrensrügen angegriffenen und daher gemäß § 163 SGG bindenden tatsächlichen Feststellungen des Landessozialgerichts hatte sich der (ledige und kinderlose) Kläger der Arbeitsvermittlung uneingeschränkt zur Verfügung gestellt. Sein zukünftiger „Beschäftigungsort“ war also – ebenso wie bei der vom Bundessozialgericht am 18. Mai 2010 entschiedenen Fallgestaltung3 – nicht auf das Beitrittsgebiet beschränkt. Demzufolge sind alle Beschäftigungen zu berücksichtigen, die ein nicht ortsgebundener Arbeitsloser auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im gesamten Bundesgebiet verrichten kann4.

§ 327 Abs 1 SGB III, wonach für Leistungen an Arbeitnehmer die Agentur für Arbeit zuständig ist, in deren Bezirk der Arbeitnehmer bei Eintritt der leistungsbegründenden Tatbestände seinen Wohnsitz hat, regelt (nur) die örtliche Zuständigkeit im Bereich des Leistungsrechts5. Demzufolge hat der Kläger; der im Zeitpunkt der Antragstellung seinen Wohnsitz in Glauchau hatte, bei der Agentur für Arbeit G. seinen Leistungsantrag gestellt. Diese örtliche Zuständigkeitsregelung ist indes nicht geeignet, als objektives Kriterium für eine Begrenzung der Verfügbarkeit eines Leistungsempfängers zu dienen. Auch die von der Beklagten geltend gemachte (angebliche) unauflösbare Diskrepanz zwischen den Regelungsgehalten des § 121 Abs 4 SGB III und den Regelungen zur fiktiven Bemessung des Arbeitslosengeldes – im Falle einer Nichtanwendbarkeit des § 408 Nr 1 SGB III – ist nicht ersichtlich.

§ 121 Abs 4 SGB III regelt nur, welche Tagespendelstrecke einem Arbeitslosen zumutbar ist. Nach § 121 Abs 1 SGB III sind einem Arbeitslosen alle seiner Arbeitsfähigkeit entsprechenden Beschäftigungen zumutbar, soweit allgemeine oder personenbezogene Gründe der Zumutbarkeit einer Beschäftigung nicht entgegenstehen. In den Absätzen 2 bis 4 des § 121 SGB III sind die allgemeinen Gründe (Abs 2), die personenbezogenen Gründe hinsichtlich des Arbeitsentgelts (Abs 3) und die personenbezogenen Gründe hinsichtlich Pendelzeiten (Abs 4) näher erläutert. Die in § 121 SGB III enthaltenen Durchbrechungen des Grundsatzes der Zumutbarkeit sind also Schutzvorschriften zugunsten des Arbeitslosen. Sie schließen keineswegs aus, dass er auch innerhalb der ersten drei Monate der Arbeitslosigkeit eine Arbeit außerhalb des zumutbaren Tagespendelbereichs aufnehmen darf. Hat sich also der Kläger zu Beginn seiner Arbeitslosigkeit für Vermittlungsbemühungen im gesamten Bundesgebiet zur Verfügung gestellt, bestehen gerade auch vor dem Hintergrund der persönlichen Lebensumstände des Klägers (ledig, kinderlos, Arbeitsaufnahme am 17.3.2008 in Berlin) keine Anhaltspunkte, die Schlussfolgerung, der Kläger sei uneingeschränkt vermittelbar gewesen, revisionsrechtlich zu beanstanden. Es bedarf deshalb auch keiner weiteren Vertiefung, dass die Beklagte in ihrem Ausgangsbescheid vom 8.10.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.10.2007 zunächst selbst das tarifliche Entgelt im dritten Ausbildungsjahr „West“ zugrunde gelegt hat.

Entgegen der Rechtsansicht der Beklagten führt die Nichtanwendbarkeit es § 408 Nr 1 SGB III bei Arbeitslosen, deren Anspruch auf Arbeitslosengeld nach einem fiktiven Arbeitsentgelt gemäß § 132 SGB III bestimmt wird, nicht zu einer sachwidrigen Benachteiligung von Arbeitslosen, deren Entgelt nach §§ 130, 131 SGB III ermittelt wird. Denn es handelt sich insoweit um unterschiedliche Sachverhaltsgestaltungen und Personengruppen. Während bei Arbeitslosen, deren Entgelt nach den §§ 130, 131 SGB III ermittelt wird, an eine zuletzt ausgeübte Beschäftigung angeknüpft werden kann, ist dies bei der fiktiven Bemessung nach § 132 SGB III gerade nicht der Fall; deshalb kann auch an keinen (zukünftigen) Beschäftigungsort angeknüpft werden6. Aus Sicht des Bundessozialgerichts bestehen auch keine Anhaltspunkte für eine Verletzung des Gleichbehandlungsgebots nach Art 3 Abs 1 Grundgesetz. Im Gegenteil würden, wollte man der Rechtsansicht der Beklagten folgen, die Schutzvorschriften des § 121 Abs 3 und 4 SGB III in ihr Gegenteil verkehrt.

Die Revision der Beklagten hat jedoch insoweit Erfolg, als das Arbeitslosengeld des Klägers für die Zeit vom 1.1. bis 16.3.2008 – anders als vom Landessozialgericht in den Entscheidungsgründen (die insoweit als Ergänzung seines Entscheidungssatzes zu verstehen sind) ausgeführt – nach dem für das Jahr 2007 maßgebenden Wert der Bezugsgröße West zu berechnen ist.

Das fiktive Arbeitsentgelt wird ausgehend von den Verhältnissen bestimmt, die zum Zeitpunkt der Entstehung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld vorliegen. Dies hat das Bundessozialgericht in einer Entscheidung7 zur früheren Regelung des § 112 Abs 7 AFG bereits klargestellt. Daran hat sich nach Inkrafttreten des SGB III und mit der ab 1.1.2005 eingeführten Vorschrift des § 132 SGB III durch das Gesetz vom 23.12.20038 insoweit nichts geändert9. In gleicher Weise wie das reguläre Bemessungsentgelt nach § 131 SGB III bleibt das fiktive Arbeitsentgelt nach § 132 SGB III bis zur Erschöpfung des Anspruchs für die Bemessung des Arbeitslosengeldes maßgebend10. Entgegen der Rechtsansicht des Sächsichen Landessozialgerichts11 ist also der Wert der Bezugsgröße West 2007 für den gesamten streitigen Zeitraum und nicht nur für die Zeit zum 31.12.2007 zugrunde zu legen. Der Entscheidungssatz des Berufungsurteils war daher entsprechend klarzustellen.

Bundessozialgericht, Urteil vom 25. August 2011 – B 11 AL 13/10 R

  1. vgl § 2 Abs 1 Sozialversicherungs-Rechengrößengesetz 2007 vom 2.12.2006, BGBl I 2724, 2746[]
  2. BSG, Urteil vom 18.05.2010 – B 7 AL 49/08 R, SozR 4-4300 § 122 Nr 8, RdNr 19, mwN[]
  3. BSG, aaO[]
  4. ebenso Coseriu in Mutschler/Bartz/Schmidt-De Caluwe, SGB III, 3. Aufl 2008, § 132 RdNr 29; Eicher in Eicher/Schlegel, SGB III, § 408 RdNr 30, Stand Einzelkommentierung Dezember 2010; Rolfs in Gagel, SGB II/SGB III, § 132 SGB III RdNr 13, Stand Einzelkommentierung März 2011[]
  5. vgl ua Stratmann in Niesel/Brandt, SGB III, 5. Aufl 2010, § 327 RdNr 2, 5 ff; Hengelhaupt in Hauck/Noftz, K § 327 RdNr 76 ff, 88 ff, Stand Einzelkommentierung Juli 2007; Striebinger in Gagel, SGB II/SGB III, § 327 SGB III RdNr 9 ff, Stand Einzelkommentierung Juli 2009[]
  6. vgl BSG, Urteil vom 18.05.2010, aaO[]
  7. BSG, Urteil vom 23.11.1988, BSGE 64, 174, 175 = SozR 4100 § 112 Nr 42 S 198[]
  8. BGBl I 2848[]
  9. vgl ua Behrend in Eicher/Schlegel, SGB III, § 132 RdNr 30, Stand Einzelkommentierung Januar 2006[]
  10. ebenso Behrend in Eicher/Schlegel, aaO; Marschner in Gemeinschafts-Komm, SGB III, § 132 RdNr 11, Stand Einzelkommentierung November 2010[]
  11. Sächsisches LSG, Urteil vom 29.04.2009 – L 1 AL 195/08[]