Grundsicherung für eine ausländische Prostituierte während der Schwangerschaft

Die den Angehörigen der Mitgliedstaaten durch Art. 49 AEUV zuerkannte Niederlassungsfreiheit schließt (unter bestimmten Voraussetzungen) die Ausübung der selbständigen Prostitution – auch ohne „feste Einrichtung“ – ein; aufgrund einer solchen selbständigen Erwerbstätigkeit besteht ein von einer Arbeitsuche unabhängiges Recht auf Aufenthalt.

Anspruch auf Arbeitslosengeld II haben nach den §§ 7 Abs. 1 Satz 1 und 19 Abs. 1 Satz 1 SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet, aber noch nicht die Altersgrenze nach § 7a SGB II erreicht haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben. Nach § 8 Abs. 1 SGB II ist erwerbsfähig, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden erwerbstätig zu sein. Dass die Antragstellerin aufgrund ihrer Schwangerschaft Einschränkungen in der Erwerbstätigkeit unterliegt, kann insoweit schon aufgrund deren vorübergehenden Charakters keine andere Beurteilung zur Folge haben. Bei einem normalen Verlauf der Schwangerschaft – anderes ist hier nicht ersichtlich – liegt kein regelwidriger Körperzustand der Frau vor und damit nicht einmal eine Arbeitsunfähigkeit1. Dass eine Schwangerschaft allein die Erwerbsfähigkeit i.S.d. §§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 8 Abs. 1 SGB II nicht berührt, ergibt sich im Übrigen aus § 21 Abs. 2 SGB II.

Der Leistungsanspruch der Antragsteller entfällt auch nicht aufgrund der Regelung in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, wonach Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und ihre Familienangehörigen keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs haben. Die Antragstellerin hat ein Aufenthaltsrecht nicht (lediglich) „zur Arbeitsuche“ (§ 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU [FreizügG/EU]), sondern als „niedergelassene selbständige Erwerbstätige“ aufgrund des § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 2 FreizügG/EU, ihre sie begleitenden Kinder nach § 3 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU.

Unerheblich wäre, wenn die dadurch erzielten Einkünfte nicht ausgereicht haben sollten, um davon die nach den Maßstäben des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs berechneten Bedarfe der Antragsteller zu decken.

Auch die Art der von der Antragstellerin ausgeübten Tätigkeit steht ihrem Aufenthaltsrecht nicht entgegen. Vielmehr schließt die den Angehörigen der Mitgliedstaaten (jetzt) durch Artikel 49 AEUV zuerkannte Niederlassungsfreiheit die Ausübung auch dieser selbständigen Tätigkeit ein2.

Es ist danach unerfindlich, woraus herzuleiten sein sollte, dass die Antragstellerin ihrer Tätigkeit „illegal“ nachgegangen wäre und deshalb kein „Bleiberecht“ hätte. Deren Ausübung ist in Deutschland nicht verboten. Ob die Antragstellerin die von ihr dadurch erzielten Einkünfte insbesondere dem Finanzamt gegenüber zutreffend angegeben hat, berührt nicht die Rechtmäßigkeit der Ausübung dieser Tätigkeit. Dass sie gegenüber dem Gewerbeamt nicht diese, sondern eine andere Tätigkeit angezeigt hat, dürfte schon deshalb unerheblich sein, weil die von ihr nach ihrem Vortrag tatsächlich ausgeübte Tätigkeit offenbar von den Gewerbeämtern nicht als „Gewerbe“ (i.S.d. Gewerbeordnung) angesehen und eine Anzeigepflicht dementsprechend nicht angenommen wird3. Aber selbst falls diese Tätigkeit als „Gewerbe“ i.S.d. Gewerbeordnung anzuzeigen sein sollte – was die Antragstellerin in der Tat nicht getan hat – wäre ihre (nicht angezeigte) Ausübung nicht „illegal“, da es jedenfalls einer amtlichen Erlaubnis dazu nicht bedarf4.

Nicht folgen kann das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg auch der Auffassung, die Antragstellerin habe deshalb keine „selbständige Erwerbstätigkeit“ ausgeübt, weil sie dazu keine „feste Einrichtung“ unterhalten habe, sondern ihr „auf der Straße nachgegangen“ sei. In seinem dafür zur Begründung angezogenen Urteil vom 19.10.20105, in dem es als Voraussetzung für die Niederlassungsfreiheit – auch – das Bestehen einer „festen Einrichtung“ genannt hat – freilich ohne dass dies für seine Entscheidung erheblich gewesen wäre, schließt das Bundessozialgericht an das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 25.07.19916 an, wo der Gerichtshof in der Tat „bemerkt“ hat,“daß der Niederlassungsbegriff im Sinne der Artikel 52 ff. EWG-Vertrag die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit umfasst“. Gegenstand jenes Verfahrens war – u.a. – die dem Gerichtshof vorgelegte Frage, ob es einem Mitgliedstaat nach dem Gemeinschaftsrecht untersagt ist, als Voraussetzung für die Eintragung eines Fischereifahrzeugs in sein nationales Register zu verlangen, dass das fragliche Schiff von diesem Mitgliedstaat aus operiert und sein Einsatz von dort aus geleitet und überwacht wird; diese Frage hat der Gerichtshof verneint und in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass die die Niederlassungsfreiheit verbürgenden Bestimmungen des EWG-Vertrages nicht dem Erfordernis entgegenstehen, für die Registrierung eines für die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit verwendeten Schiffes in einem Mitgliedstaat zu verlangen, dass der Einsatz dieses Schiff von (augenscheinlich einer „festen Einrichtung“ in) diesem Mitgliedstaat geleitet und überwacht wird. Daraus lässt sich jedoch nicht der Schluss ziehen, auf die Niederlassungsfreiheit könne sich nur berufen, wer für die Ausübung seiner wirtschaftlichen Tätigkeit eine „feste Einrichtung“ unterhält. Denn es sind eine Reihe von wirtschaftlichen („gewerblichen“) Tätigkeiten denkbar, deren Ausübung gerade keine „feste Einrichtung“ voraussetzt („Reisegewerbe“; vgl. §§ 55 ff. GewO). Zudem hat der Gerichtshof in seinem bereits genannten Urteil vom 20.11.2001 zu der von der Antragstellerin ausgeübten Tätigkeit – in Kenntnis dessen, dass ihr auch „auf der Straße nachgegangen“ werden kann7 – entschieden, dass sie als eine durch die Niederlassungsfreiheit gewährleistete selbständige Erwerbstätigkeit anzusehen ist, sofern sie nicht im Rahmen eines Unterordnungsverhältnisses in Bezug auf die Wahl dieser Tätigkeit, die Arbeitsbedingungen und das Entgelt, in eigener Verantwortung und gegen ein Entgelt, das der diese Tätigkeit ausübenden Person vollständig und unmittelbar gezahlt wird, ausgeübt wird; eine „feste Einrichtung“ ist danach jedenfalls für diese Tätigkeit nicht erforderlich, um sich auf die Niederlassungsfreiheit berufen zu können.

Das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin – und damit auch das davon abgeleitete der übrigen Antragsteller – entfällt nicht dadurch, dass sie ihre Tätigkeit aufgrund ihrer erneuten Schwangerschaft im Oktober 2012 eingestellt hat. Nach § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU bleibt nach mehr als einem Jahr Tätigkeit das Recht auf Aufenthalt als Erwerbstätiger erhalten, wenn die Einstellung der selbständigen Tätigkeit auf Umständen beruht, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte. Dies ist hier anzunehmen: Wie das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg bereits erwogen hat8, erscheint es „zweifelhaft, dass die Beendigung einer selbständigen Tätigkeit als freiwillig im Sinne des Gesetzes anzusehen ist, wenn sie Folge einer Schwangerschaft ist. Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hat im Zusammenhang mit § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU zutreffend und überzeugend ausgeführt, das Grundgesetz stelle die Familie im allgemeinen und zusätzlich ausdrücklich die Mutter unter besonderen Schutz (Art. 6 Abs. 1 und 4 GG). Diesem Schutzauftrag liefe es zuwider, wenn der Entschluss, ein Kind zu bekommen, mit einem derart schwerwiegenden Nachteil wie dem Verlust des Rechts auf Freizügigkeit und damit auf den Aufenthalt im Inland verbunden wäre. Zum anderen stelle es auch einen Verstoß gegen das Verbot geschlechtsspezifischer Benachteiligung (Art. 3 Abs. 3 GG) dar, nur bei der schwangeren Frau rechtliche Nachteile aus einer Tatsache eintreten zu lassen, die sie zwangsläufig nicht allein herbeiführen kann9. Diese Gesichtspunkte sind auf die hier entscheidende Vorschrift des § 2 Abs. 3 S. 2 FreizügG/EU übertragbar.“ Daran hält der Senat fest.

Demgemäß bestehen auch keine Zweifel, dass die Antragsteller ihren „gewöhnlichen Aufenthalt“ in Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II) haben.

Nach allem sind für das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld II für die Antragstellerin bzw. auf Sozialgeld (§§ 7 Abs. 2 Satz 1 und 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II) für die mit der Antragstellerin in einer Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II) lebenden Kinder glaubhaft gemacht.

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Januar 2013 – L 14 AS 3133/12 B ER

  1. vgl. BAG, Urteil vom 22.03.1995 – 5 AZR 874/93[]
  2. vgl. bereits EuGH, Urteil vom 20.11.2001 – C-268/99 [Aldona Malgorzata Jany u.a. gg. Staatssecretaris van Justitie], Slg. S. 8657; und daran anschließend BVerwG, Beschluss vom 24.10.2002 – 1 C 31/02, Buchholz 451.9 Art. 52 EG-Vertrag Nr. 1[]
  3. Bericht der Bundesregierung zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten (Prostitutionsgesetz – ProstG), B.IX.1, S. 66[]
  4. nicht nachvollziehbar deshalb auch LSG NRW, Beschluss vom 20.08.2011 – L 12 AS 531/12 B ER[]
  5. BSG, Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 23/10 R[]
  6. EuGH, Urteil vom 25.07.1991 – C-221/89 [The Queen gg. Secretary of State for Transport, ex parte: Factortame Ltd u. a.], Slg. 3956, 3965[]
  7. EuGH, Urteil vom 20.11.2001, a.a.O., Erwägungsgrund 62[]
  8. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25.10.2010 – L 14 AS 1806/10 B ER[]
  9. LSG Berlin-Brandenburg – L 15 B 54/08 SO ER[]