Die Absenkung des Arbeitslosengeldes II ist bei einem einarmigen Leistungsempfängers nach dem SGB II nicht rechtmäßig, wenn die Person aufgrund einer Verletzung der verbliebenen rechten Hand die Eingliederungsvereinbarung nicht erfüllen konnte und damit ein wichtiger Grund gemäß § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II vorliegt.
So die Entscheidung des Sozialgerichts Karlsruhe in dem hier vorliegenden Fall einer Klägerin, die sich gegen die Absenkung von Arbeitslosengeld II um 100 v.H. wendet. Die 1959 geborene Klägerin, eine Schwerbehinderte zu deren Gunsten ein Grad der Behinderung (GdB) von seit dem … 1975 von 50 v.H. und seit dem … 1991 von 60 v.H. wegen des angeborenen Fehlens des linkem Unterarms und der linken Hand sowie wegen psychovegetativer Dysregulation festgestellt worden ist, unterzog sich am … 2010 stationär der rechtsseitigen Medianus Neurolyse im Kreiskrankenhaus M..
Mit Eingliederungsvereinbarung durch Verwaltungsakt vom … 2011 gab der Beklagte der Klägerin auf, pro Monat mindestens jeweils zwei Bewerbungsbemühungen um sozialversicherungspflichtige oder geringfügige Beschäftigungsverhältnisse zu unternehmen und Nachweise darüber bis zum 01. des Folgemonats der Behörde vorzulegen. In der Eingliederungsvereinbarung durch Verwaltungsakt wurde die Klägerin über die Rechtsfolgen unterlassener Eigenbemühungen und des Nachweises der Vorlage selbiger belehrt. Bei einer persönlichen Vorsprache bei der Beklagten wurde der Klägerin die wiederholte Nichteinhaltung der Eingliederungsvereinbarung per Verwaltungsakt vom … 2011 vorgehalten. Mit Absenkungsbescheid vom … 2011 verfügte der Beklagte den Wegfall des Arbeitslosengeldes II. Daraufhin hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht erhoben.
Das Sozialgericht hat in der Klageerhebung zugleich eine wirksame Widerspruchserhebung erkannt und den Beklagten zur Durchführung des Widerspruchsverfahrens aufgefordert. Daraufhin hat der Beklagte den Widerspruch der Klägerin gegen den Absenkungsbescheid vom … 2011 mit Widerspruchsbescheid vom … 2011 als unbegründet zurückgewiesen. Nachdem der Klägerin das Arbeitslosengeld II in vorangegangenen Absenkungsverfahren zunächst um 30 v.H. und sodann um 60 v.H. jeweils bezogen auf drei Monate abgesenkt worden sei, sei nun für den streitgegenständlichen Zeitraum von April 2011 bis Juni 2011 eine Absenkung der Regelleistung um 100 v.H. zu verhängen gewesen. Die Klägerin trägt im Klageverfahren vor, sie habe sich in Folge ihrer erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen nicht um Arbeitsstellen bewerben können. Dementsprechend habe sie auch keine Eigenbemühungen gegenüber dem Beklagten nachzuweisen gehabt.
Nach Auffassung des Sozialgerichts Karlsruhe ist das der Klägerin in den Monaten April, Mai und Juni 2011 zustehende Arbeitslosengeld II zu Unrecht um 100 v.H. abgesenkt worden. Gemäß § 31 Abs. 1 SGB II verletzen erwerbsfähige Leistungsberechtigte ihre Pflichten, gegenüber dem Grundsicherungsträger, wenn sie trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis sich weigern, in der Eingliederungsvereinbarung oder in dem diese ersetzenden Verwaltungsakt nach § 15 Abs. 1 Satz 6 SGB II festgelegte Pflichten zu erfüllen, insbesondere in ausreichendem Umfang Eigenbemühungen nachzuweisen. Bei einer Pflichtverletzung nach § 31 Abs. 1 SGB II mindert sich gemäß § 31a Abs. 1 SGB II das Arbeitslosengeld II in einer ersten Stufe um 30 v.H. des für die erwerbsfähige leistungsfähige Person nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs. Bei einer ersten wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 SGB II mindert sich das Arbeitslosengeld II um 60 v.H. des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person nach § 20 SGB II maßgebenden Regelbedarfs. Bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 SGB II entfällt das Arbeitslosengeld II sodann vollständig (§ 31a Abs. 1 Satz 3 SGB II). Eine wiederholte Pflichtverletzung liegt nur vor, wenn bereits zuvor eine Minderung festgestellt wurde. Sie liegt nicht vor, wenn der Beginn des vorangegangenen Minderungszeitraums länger als ein Jahr zurückliegt. Dies alles gilt gemäß § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II indes nicht, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte einen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen.
Danach steht zur Überzeugung des Sozialgerichts zwar fest, dass die Klägerin entgegen der Eingliederungsvereinbarung per Verwaltungsakt vom … 2011 dem Beklagten Eigenbemühungen nicht nachgewiesen hat. Hierfür hat der Klägerin aber ein wichtiger Grund im Sinne von § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II zur Seite gestanden. Wichtige Gründe im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II können alle Umstände des Einzelfalls sein, die unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Hilfebedürftigen in Abwägung mit etwa entgegenstehenden Belangen der Allgemeinheit das Verhalten des Hilfebedürftigen rechtfertigen1. Ob dies der Fall ist, unterliegt als unbestimmtem Rechtsbegriff ohne einen Beurteilungsspielraum des Leistungsträgers in vollem Umfang von Amts wegen der gerichtlichen Kontrolle. Die dem Leistungsberechtigten auferlegte Nachweispflicht setzt nicht voraus, dass der Leistungsberechtigte einen objektiv vorliegenden wichtigen Grund als solchen erkennt und sein Verhalten hiernach ausgerichtet hat. Bei der Kasuistik wichtiger Gründe im Vordergrund stehen persönliche, insbesondere gesundheitliche oder familiäre Gründe2.
An diesem Prüfungsmaßstab orientiert, nimmt das erkennende Gericht zunächst die Besonderheit in den Blick, dass es sich bei der Klägerin um eine schwerbehinderte Einhänderin handelt, der es seit Geburt am linken Unterarm und der linken Hand fehlt und die darüber hinaus dauernd an psychovegetativer Dysregulation leidet. Weiter berücksichtigt das Gericht, dass sich die Klägerin an der noch erhaltenen rechten Hand am … 2010 einem grundsicherungsrechtlich nicht duldungspflichtigen operativen Eingriff unterzogen hat, dessen Folgen für die Klägerin noch am … 2011 in relevanter Weise spürbar gewesen sind (leichte Schwäche der rechten Hand bei fortbestehenden Kribbelparästhesien). Dies ist für das Sozialgericht aufgrund der sachverständigen Zeugenaussage des Neurologen R… vom … 2011 und derjenigen des Chirurgen Dr. K… vom … 2011 nachgewiesen. Darüber hinaus sind bei der Klägerin für das erste Halbjahr 2011 durch MRT der Halswirbelsäule vom … 2011 folgende Gesundheitsstörungen nachgewiesen: Dehydrierung aller vertikalen Discusfächer bei Instabilität mit reaktiver Uncovertebralarthrose, betont bei HWK 5/6 und 6/7 sowie eine Wurzelkompression von C6 und C7. Die vorgenannten Gesundheitsstörungen sind vor dem Hintergrund der Einarm- und Einhändigkeit der Klägerin erschwerend zu berücksichtigen. Erfüllte die Klägerin, die zuletzt 1981 versicherungspflichtig beschäftigt gewesen ist, die sogenannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach § 43 SGB VI, läge in ihrem Fall rentenversicherungsrechtlich eine sogenannte schwere spezifische Leistungseinschränkung in Folge Einarmigkeit vor, mit der weiteren Folge, dass ihr entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren wäre3.
Vor diesem Hintergrund hat das Sozialgericht grundlegende Zweifel, ob die Klägerin, der Erwerbsminderungsrente nur deshalb nicht zusteht, weil sie die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gemäß § 43 SGB VI nicht erfüllt, überhaupt erwerbsfähig im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 8 SGB II ist. Voraussetzung dafür ist nämlich, dass die Hilfebedürftige nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außer Stande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Dementsprechend wäre der Beklagte gehalten gewesen, von Amts wegen die Frage der Erwerbsfähigkeit der Klägerin im Sinne von §§ 7, 8 SGB II prüfen zu lassen. Diese Aufgabe kann der Beklagte auch nicht im Rahmen eines Absenkungsverfahrens auf das zur Rechtskontrolle berufene Sozialgericht verlagern. Dies widerspräche in diametraler Weise dem in Art. 19 Abs. 4, 20 GG verankerten Gewaltenteilungsgrundsatz und überfrachtete das auf Rechtskontrolle gerichtete effektive Rechtsschutzverfahren mit den ureigensten Amtsermittlungspflichten des Beklagten.
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass der Klägerin für die Zeit ab Januar 2011 ein wichtiger Grund für die Tatsache zur Seite gestanden hat, die Eingliederungsvereinbarung vom … 2011 nicht zu erfüllen.
Darüber hinaus und unabhängig vom Vorstehenden bestehen erhebliche Zweifel an der 100 v.H.-Absenkung im angefochtenen Bescheid vom … 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom … 2011 auch deshalb, weil die bestandskräftig gewordenen Absenkungsbescheide vom … 2010, … 2011 und … 2011 angesichts der vorstehenden Ausführungen im Rahmen von derzeit noch möglichen Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X kaum Bestand haben dürften. Wie bereits ausgeführt, hat nämlich die Operation an der einzig der Klägerin verbliebenen rechten Hand schon am … 2010 stattgefunden. Seither ist die auf die rechte Hand und den rechten Arm allein zurückgeworfen und zwingend angewiesene Klägerin auch mit dieser Hand nicht voll einsatzfähig gewesen. Dies erstreckt sich auf sämtliche Sanktionszeiträume seit Oktober 2010, sodass insbesondere im Hinblick auf die Ausführungen der ärztlichen Bescheinigung von Dr. Dr. D… vom … 2012 auch insoweit ganz erhebliche rechtliche Bedenken bestehen.
Sozialgericht Karlsruhe, Urteil vom 24. Mai 2012 – S 4 AS 2005/11