Die Kosten des Hygienebedarfs eines an AIDS erkrankten Leistungsempfängers nach dem SGB II hat für vergangene Zeiträume der Träger der Sozialhilfe zu übernehmen. Der Grundsicherungsträger ist hierfür nicht zuständig. Der zukünftige Kostenträger dürfte in gleichgelagerten Fällen aufgrund der zwischenzeitlich in Kraft getretenen Vorschrift des § 21 Abs. 6 SGB II dagegen der nach dem SGB II zuständige Grundsicherungsträger sein.
In dem jetzt vom Bundessozialgericht entschiedenen Fall ist der im Jahre 1968 geborene Kläger an einer HIV-Infektion erkrankt und Leistungsbezieher nach dem SGB II. Er machte laufende Kosten für Hygienebedarf geltend, den der beklagte Grundsicherungsträger, das Job Center Berlin Mitte, ablehnte. Das erstinstanzlich mit dem Fall befasste Sozialgericht Berlin hat nach Beiladung den Sozialhilfeträger verurteilt1. Das SGB II stelle ein abgeschlossenes System dar, allerdings könne über § 73 SGB XII in atypischen Fällen eine Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers (hier des Landes Berlin) bejaht werden. Gegen dieses Urteil hat das Land Berlin Sprungrevision zum Bundessozialgericht eingelegt. Der Kläger begehrt im Wege der Anschlussrevision eine Verurteilung des Grundsicherungsträgers, wobei er sich insbesondere auf die ALG II-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 beruft.
Die Revision des Landes Berlin und die Anschlussrevision des Klägers hatten vor dem Bundessozialgericht jedoch beide keinen Erfolg. Zu Recht, so das Bundessozialgericht, hat das Sozialgericht Berlin den beigeladenen Sozialhilfeträger auf Grundlage des § 73 SGB XII verurteilt, die Kosten des Hygienebedarfs des an AIDS erkrankten Klägers zu tragen.
Die Klage gegen den Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II hat keinen Erfolg. Innerhalb des SGB II ist für den streitigen Zeitraum für den Kläger keine gesetzliche Anspruchsgrundlage gegeben, weil das SGB II ein abgeschlossenes und pauschaliertes Leistungssystem enthält. Auch der neue, vom Bundesverfassungsgericht in seiner ALG II-Entscheidung geschaffene verfassungsrechtliche Anspruch bei Vorliegen eines unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen besonderen Bedarfs steht dem Kläger für den streitigen Zeitraum nicht zur Verfügung.
Das Bundessozialgericht geht unabhängig von der Frage, ob dieser verfassungsrechtliche Anspruch bereits für vergangene Zeiträume eingreift davon aus, dass er subsidiär nur zum Zuge kommen kann, wenn dem jeweiligen Kläger nicht bereits einfachrechtlich ein Anspruch auf die Leistung zusteht. Dies war hier aber der Fall, weil das Sozialgericht den Beigeladenen zu Recht gemäß § 73 SGB XII verurteilt hat.
Wie das Bundessozialgericht bereits für die Kosten des Umgangsrechts der Kinder nach Ehescheidung entschieden hat, kann einem Empfänger von Leistungen nach dem SGB II ausnahmsweise ein Anspruch auf Hilfe in sonstigen Lebenslagen nach § 73 SGB XII gegen den Sozialhilfeträger zustehen, wenn eine atypische Bedarfslage vorliegt, die im SGB II nicht gedeckt werden kann, deren Befriedigung aber aus verfassungsrechtlichen Gründen zwingend geboten ist. Weiterhin muss eine gewisse Ähnlichkeit mit den im fünften Kapitel des SGB XII genannten Leistungen bestehen.
So lagen die Verhältnisse hier: Für den an AIDS erkrankten Kläger streiten das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Verbindung mit der Menschenwürde (Art. 2 Abs 1 GG in Verbindung mit Art. 1 GG). Regelungen für den entsprechenden Anspruch enthalten die §§ 47 ff. SGB XII. Für die Atypik der Bedarfslage kommt es nicht auf die Größe des betroffenen Personenkreises, sondern auf die inhaltliche Natur des ungedeckten Bedarfs an. Allerdings räumt § 73 SGB XII dem Leistungsträger Ermessen ein. Hier hat das Sozialgericht aber zu Recht erkannt, dass dieses für die Entscheidung dem Grunde nach auf Null geschrumpft ist.
Allerdings kann eine Verurteilung des Sozialhilfeträgers dem Grunde nach nur erfolgen, wenn der Einsatz öffentlicher Mittel gerechtfertigt ist. Geht es um einen Bedarf im Bagatellbereich so ist das nicht der Fall, hier hat jeder die bei ihm anfallenden Kosten gegebenenfalls selbst tragen.
Im vorliegenden Fall hatte der Kläger seinen monatlichen, fortlaufend entstehenden Bedarf jedoch zunächst mit 20,45 € beziffert, sodass jedenfalls ein Bedarf in dieser Höhe den Einsatz öffentlicher Mittel im Sinne des § 73 SGB XII rechtfertigt. So sind die Kosten des Hygienebedarfs eines an AIDS erkrankten Leistungsempfängers für die vergangenen Zeiträume vom Träger der Sozialhilfe zu übernehmen. Hinsichtlich der Höhe des tatsächlich notwendigen Bedarfs des Klägers wird erst noch abschließend eine Verwaltungsentscheidung zu ergehen haben.
Bundessozialgericht, Urteil vom 19. August 2010 – B 14 AS 13/10 R
- SG Berlin – S 94 AS 2311/08[↩]