Nach § 24a S. 1 SGB II1 erhalten Schülerinnen und Schüler, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und die eine allgemein- oder berufsbildende Schule besuchen, eine zusätzliche Leistung für die Schule in Höhe von 100 €, wenn sie oder mindestens ein im Haushalt lebender Elternteil am 1.8. des jeweiligen Jahres Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II haben.
Auch der Besuch einer Tagesbildungsstätte für Kinder und Jugendliche mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf in dem Schwerpunkt „Geistige Entwicklung“ im Land Niedersachen ist aufgrund der gebotenen weiten Auslegung des Begriffs der „allgemeinbildenden Schule“ hierunter zu fassen. Der Inhalt dieses Begriffs wird nicht durch die landesrechtlichen Vorgaben, sondern vorrangig durch bundesrechtliche Maßstäbe bestimmt. Der Inhalt des Begriffs der „allgemeinbildenden Schule“ ist – bezogen auf das SGB II – bereichsspezifisch nach dem Gesetzeskontext, der Historie der Vorschrift sowie nach deren Sinn und Zweck zu bestimmen. Das uneingeschränkte Abstellen auf die jeweiligen landesrechtlichen Vorgaben zum Begriff der allgemeinbildenden Schule würde gegen den Inhalt der revisiblen Norm des § 24a S. 1 SGB II verstoßen. Auf den Inhalt der schulrechtlichen Regelungen in Niedersachsen, bei denen es sich um irrevisibles Recht handelt, dessen Auslegung das BSG grundsätzlich bindet (§ 202 SGG i.V.m. § 560 ZPO)2, kann es daher nur im Rahmen der bundesrechtlichen Vorgaben des § 24a S. 1 SGB II ankommen.
Insofern stellt § 24a S. 1 SGB II bereits nach seinem Wortlaut allein auf den „Besuch“ einer allgemeinbildenden Schule und nicht damit verbundene Schulabschlüsse nach den jeweiligen landesrechtlichen Vorschriften ab. § 24a SGB II unterscheidet sich von § 23 Abs 3 S. 1 SGB II, der Ansprüche auf weitere besondere Schulbedarfe regelt. Hiernach sind Leistungen für Klassenfahrten nur „im Rahmen schulrechtlicher Bestimmungen“ zu erbringen (vgl nunmehr § 28 Abs 2 S. 1 Nr 2 SGB II). Wie die beiden für die Grundsicherung für Arbeitslose zuständigen Senate des BSG bereits entschieden haben, gibt bei dieser Norm die Verbindung der Begriffe „mehrtägige Klassenfahrten“ und „schulrechtliche Bestimmungen“ einerseits bundesrechtlich vor, dass nur Leistungen zu erbringen sind für Kosten, die durch eine schulische Veranstaltung entstanden sind, die mit mehr als nur einem Schüler, für mehr als einen Tag und außerhalb der Schule durchgeführt wird. Andererseits folgt aus der Verbindung zu dem „schulrechtlichen Rahmen“, dass nach schulrechtlichen Vorschriften des jeweiligen Bundeslandes zu bestimmen ist, ob die konkret durchgeführte Veranstaltung im Rahmen des § 23 Abs 3 S. 1 Nr 3 SGB II regional „üblich“ ist3. Hintergrund der Tragung der Kosten in tatsächlich entstandener Höhe ist, dass der Gesetzgeber der unterschiedlichen rechtlichen Umsetzung der schulpolitischen Vorstellungen in den einzelnen Bundesländern und der weitgehend eigenständigen Gestaltungsfreiheit der Länder für die Schulorganisation, aber auch den Erziehungsprinzipien und Unterrichtsgegenständen Rechnung tragen wollte4. Im Gegensatz hierzu werden in § 24a SGB II die Schulbedarfe bundesweit als Pauschale übernommen. Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass es sich um Bedarfe handelt, die an allen Schulen in gleicher Höhe anfallen. Ein in der Art der Leistung liegender sachlicher Grund für die Anknüpfung an landesrechtliche Begriffe und Regelungen besteht daher nicht, zumal der Gesetzgeber bei der Einführung der Schulbedarfe davon ausging, dass seine Gesetzgebungskompetenz zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet betroffen ist5.
Auch aus der Entstehungsgeschichte des § 24a SGB II ergibt sich, dass der Gesetzgeber für einen Anspruch auf Schulbedarfe nicht auf bestimmte Schulformen und damit verbundene Bildungsabschlüsse abstellen wollte. § 24a SGB II wurde zunächst durch Art 3 Nr 2 Familienleistungsgesetz6 in das SGB II eingefügt, aber bereits vor seinem Inkrafttreten durch Art 16 des Bürgerentlastungsgesetzes – Krankenversicherung7 geändert. Während in der Gesetzesfassung des § 24a S. 1 SGB II sowie der Parallelvorschrift des § 28a S. 1 SGB XII durch das FamLeistG noch vorausgesetzt wurde, dass die Schüler „eine allgemeinbildende oder eine andere Schule mit dem Ziel des Erwerbs eines allgemeinbildenden Schulabschlusses besuchen“, forderten die Regelungen des Schulbedarfs in ihrer dann am 1.8.2009 endgültig in Kraft getretenen Fassung nicht mehr den Erwerb eines allgemeinbildenden Schulabschlusses. In der Gesetzesbegründung zur Änderung des durch das Familienleistungsgesetz gefassten § 24a SGB II wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass mit der Neufassung des § 24a SGB II die Regelung – neben der Einbeziehung der berufsbildenden Schulen und des Wegfalls der Beschränkung auf die Jahrgangsstufe 10 – dahingehend erweitert werde, dass die Leistung unabhängig davon gezahlt werde, ob allgemeinbildende Schulabschlüsse der Haupt- oder Nebenzweck des Schulbesuchs seien. Ausdrücklich sollten alle hilfebedürftigen Schülerinnen und Schüler „unabhängig vom schwerpunktmäßig angestrebten Schulabschluss“ erfasst werden8.
Mit der vollständigen Neufassung des § 28 SGB II durch Art 2 Nr 31 des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.20119 regelt § 28 Abs 1 S. 2 SGB II mit Inkrafttreten ab 1.1.2011 einleitend, dass Bedarfe für Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft nur bei Personen berücksichtigt werden, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, eine allgemein- oder berufsbildende Schule besuchen und keine Ausbildungsvergütung erhalten (Schülerinnen und Schüler). Die Voraussetzung des Besuchs einer allgemein- oder berufsbildenden Schule ist unverändert aus der bisherigen Regelung des § 24a SGB II übernommen worden. In den Gesetzesmaterialien wird klarstellend darauf hingewiesen, dass der Begriff der Schülerinnen und Schüler für die Bedarfslagen nach dem SGB II definiert werde und sich dieser Begriff von dem schulrechtlichen Begriff unterscheide10.
Schließlich ist ein sachlicher Grund für eine Ausklammerung der behinderten Kinder, die – wie hier – durch den Besuch einer staatlich anerkannter Tagesbildungsstätte ihre Schulpflicht erfüllen, nicht erkennbar. Der allgemeine Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 GG) verbietet es, eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders zu behandeln, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die Ungleichbehandlung rechtfertigen können11. Ungleichbehandlung und rechtfertigender Grund müssen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen12. Ist von mehreren Auslegungen nur eine mit dem Grundgesetz vereinbar, muss diese gewählt werden13. Nach diesen Maßstäben kann unter Beachtung des allgemeinen Gleichheitssatzes bei der Auslegung des Begriffs der allgemeinbildenden Schule im Sinne des § 24a Abs 1 S. 1 SGB II nicht auf den Besuch bestimmter Schulformen und das zusätzliche Erfordernis des Erwerbs eines Schulabschlusses abgestellt werden.
Bei behinderten Schülern einer Tagesbildungsstätte liegt keine andere Ausgangslage vor. Es kann insbesondere nicht typisierend davon ausgegangen werden, dass die eine Tagesbildungsstätte in Niedersachsen besuchenden Schüler die von § 24a S. 1 SGB II erfassten Schulbedarfe als Leistung der Eingliederungshilfe erhalten. Nach § 54 Abs 1 S. 1 Nr 1 SGB XII gehören zu den Leistungen der Eingliederungshilfe zwar auch Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu; die Bestimmungen über die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht bleiben aber unberührt. Nach § 12 der Verordnung nach § 60 SGB XII – Eingliederungshilfe-Verordnung14 – umfasst die Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung im Sinne des § 54 Abs 1 S. 1 Nr 1 SGB XII u.a. Maßnahmen der Schulbildung zugunsten körperlich und geistig behinderter Kinder und Jugendlicher, wenn die Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, um dem behinderten Menschen eine im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht üblicherweise erreichbare Bildung zu ermöglichen. Hiervon nicht erfasst sind die auf den einzelnen Schüler entfallenden Schulbedarfe, die teilweise bereits im Regelbedarf enthalten sind15. Insofern ist der Gesetzgeber mit der Parallelvorschrift des § 28a SGB XII, gleichfalls in der Fassung des Bürgerentlastungsgesetzes – Krankenversicherung16, ausdrücklich davon ausgegangen, dass die Schulbedarfe – im Unterschied zur zusätzlichen Leistung für die Schule in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (§ 24a SGB II) an erwerbsfähige Schüler – auch an voll erwerbsgeminderte Personen erbracht werden17. Der Kläger ist hier nur aufgrund seiner Einbeziehung als Mitglied der Bedarfsgemeinschaft nach dem SGB II leistungsberechtigt. Für einen Anspruch voll erwerbsgeminderter Personen auf Leistungen für Schulbedarfe kann es folglich nicht darauf ankommen, ob ein Schul- oder Berufsabschluss erworben werden kann.
Schließlich sollen nach dem Willen des Gesetzgebers die Leistungen für Schulbedarfe die erforderliche Ausstattung am Schuljahresbeginn mit dem Erwerb von Gegenständen zur persönlichen Ausstattung für die Schule (z.B. Schulranzen, Schulrucksack, Turnzeug, Turnbeutel, Blockflöte) und für Schreib-, Rechen- und Zeichenmaterialien (zB Füller einschließlich Tintenpatronen, Kugelschreiber, Bleistifte, Malstifte, Malkästen, Hefte, Blöcke, Papier, Lineale, Buchhüllen, Zirkel, Taschenrechner, Geodreieck) umfassen18. Es handelt sich um Bedarfe, die dem Regelbedarf zuzuordnen sind und – nach der Entscheidung des BVerfG vom 9. Februar 2010 zur als verfassungswidrig angesehenen Bemessung der Regelbedarfe (bis zum 31.12.2010 „Regelleistung“) insbesondere für Kinder und Jugendliche19 – als Teil des sozialrechtlichen Existenzminimums zu werten sind20.
Bundessozialgericht, Urteil vom 19. Juni 2012 – B 4 AS 162/11 R
- in der ab 1.8.2009 geltenden Fassung des Gesetzes zur verbesserten steuerlichen Berücksichtigung von Vorsorgeaufwendungen (Bürgerentlastungsgesetz – Krankenversicherung) vom 16.7.2009, BGBl I 1959[↩]
- BSG Urteil vom 23.4.1975 – 2 RU 227/74 – BSGE 39, 252 ff, 253 = SozR 2200 § 550 Nr 4; vgl auch BSG Urteil vom 22.11.2011 – B 4 AS 204/10 R, RdNr 14 ff[↩]
- BSG, Urteil vom 22.11.2011 – B 4 AS 204/10 R, RdNr 15[↩]
- BSG Urteil vom 22.11.2011 – B 4 AS 204/10 R – RdNr 17[↩]
- BT-Drucks 16/13429 S. 50[↩]
- Gesetz zur Förderung von Familien und haushaltsnahen Dienstleistungen (Familienleistungsgesetz – FamLeistG) vom 22.12.2008, BGBl I 2955[↩]
- vom 16.7.2009, BGBl I 1959[↩]
- BT-Drucks 16/13429 S. 56 f[↩]
- BGBl I 453[↩]
- BT-Drucks 17/3404 S. 104[↩]
- BVerfGE 55, 72, 88; 93, 386, 397[↩]
- BVerfGE 111, 160, 171 = SozR 4-5870 § 1 Nr 1, RdNr 51[↩]
- BVerfGE 112, 164, 182 f = SozR 4-7410 § 32 Nr 1, RdNr 32; vgl auch BSG Urteil vom 19.2.2009 – B 10 KG 2/07 R – SozR 4-5870 § 1 Nr 2 mwN[↩]
- vom 01.02.1975, BGBl I 433[↩]
- BT-Drucks 17/3404, S. 105[↩]
- vom 16.07.2009, BGBl I 1959[↩]
- BT-Drucks 16/13429, S. 50[↩]
- BT-Drucks 16/10809, S. 16[↩]
- BVerfGE 125, 175 ff = SozR 4-4200 § 20 Nr 12[↩]
- vgl auch BSG Urteil vom 25.1.2012 – B 14 AS 131/11 R – RdNr 13[↩]