Die erstinstanzlichen Sozialgerichte einiger neuer Bundesländer sind jenseits jeder vertretbaren Grenze überlastet; dies geht insbesondere auf die massive Klagewelle infolge der Hartz-IV-Reform zurück.
So berichtet der Präsident des Thüringer Landessozialgerichts, Dr. Martin Stoll, bei Vorlage seines Geschäftsberichts für das Jahr 2011. Er betont dabei, dass mit der gravierenden Überlastung einzelner Gerichte eine erhebliche Verlängerung der Verfahrensdauer im Einzelfall einhergeht, was auch Entschädigungsklagen nach dem Gesetz zum Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren nach sich ziehen wird. Wegen der ungewöhnlich hohen Zugänge wurden die Untätigkeitsklagen im Jahre 2011 separat statistisch erfasst. Der überwiegende Anteil der insgesamt 2.627 Untätigkeitsklagen, nämlich 2.458 (92 v.H.), waren der Grundsicherung für Arbeitsuchende zuzuordnen.
Die Dauer eines sozialgerichtlichen Klageverfahrens hat sich im Kalenderjahr 2011 auf durchschnittlich 13,7 Monate leicht erhöht; im Kalenderjahr 2010 betrug sie noch 13,4 Monate. Zwar konnten auch im Jahre 2011 zahlreiche Verfahren vor allem aus dem Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende zügig beendet werden (insbesondere die oben erwähnten Untätigkeitsklagen).
Beim Blick auf die Zusammensetzung der im Jahr 2011 neu eingegangenen 25.006 Verfahren wird der bestimmende Anteil der Grundsicherung für Arbeitsuchende am Arbeitsaufkommen in der Sozialgerichtsbarkeit offenkundig: Mehr als zwei Drittel aller Streitverfahren (67,4 v.H.) betrafen dieses Rechtsgebiet.
In Thüringen bestehen überdies im Bereich der Leistungen nach dem SGB II erhebliche Besonderheiten: Zunächst ist festzustellen, dass die Bescheide der Jobcenter – aus welchen Gründen auch immer – eine sehr hohe Fehlerquote enthalten. Insofern verweist Präsident Stoll auf Zeitungsberichte über eine aktuelle Prüfung des Landesrechnungshofs. Danach sind vier von fünf Hartz-IV-Bescheiden fehlerhaft. Dies deckt sich mit den bei den Sozialgerichten gemachten Erfahrungen; dort liegt die Erfolgsquote bei Verfahren aus dem Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende bei 50 v. H. – dies ist deutlich mehr als bei den Versicherungsträgern aus den Bereichen der Renten-, Kranken- und Unfallversicherung. Angesichts einer häufig fehlerhaft arbeitenden Verwaltung ist eine gut funktionierende Sozialgerichtsbarkeit, die die gemachten Fehler behebt, unverzichtbar.
Auf der anderen Seite gibt es aber nach Meinung des Präsidenten des Landessozialgerichts Thüringen auch einige wenige Rechtsanwälte, die Mängel in den Bescheiden in nicht vertretbarer Weise ausnutzen. So wurden in der Vergangenheit hunderte, wenn nicht tausende Verfahren um wenige Cent-Beträge geführt (ein einziger Anwalt hat im Jahre 2009 rund 2.800 Verfahren anhängig gemacht und dafür vom Jobcenter rund 630.000 Euro erhalten; für die Jahre 2010 und 2011 sind keine Zahlen bekannt, sie dürften aber vergleichbar sein). Oftmals wurde den Klägern für die Betreibung dieser Klagen auch noch vom Freistaat Thüringen Prozesskostenhilfe gewährt. Vielen Leistungsempfängern dürfte dabei aber nicht bewusst gewesen sein, dass die ihnen bewilligte Prozesskostenhilfe, die sich regelmäßig auf mehrere hundert Euro beläuft, unter Umständen zurückzuzahlen ist. Profitiert haben jedenfalls die Rechtsanwälte, die diese Verfahren anhängig gemacht haben; ihre Gebühr beträgt stets ein Vielfaches des erstrittenen Betrags (der oben erwähnte Anwalt hat beispielsweise von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit von Anfang 2010 bis heute weitere 430.000 Euro Prozesskostenhilfe überwiesen bekommen). – Bezeichnenderweise haben anwaltlich nicht vertretene Kläger besagte Rechtsstreitigkeiten ebenso wenig anhängig gemacht wie Kläger, die von einer Gewerkschaft oder einem Sozialverband vertreten wurden.
Im Rahmen der so genannten Hartz IV-Novellierung Anfang 2011 wurden einige Schwachstellen beseitigt. Seither sind entsprechende Verfahren wieder deutlich zurückgegangen. Nunmehr (am 12. Juli 2012) hat das Bundessozialgericht entschieden, dass eine Beschwer unter 50 Cent wirtschaftlich so geringfügig ist, das sie die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes nicht rechtfertigt. Ob diese neue Rechtsprechung zu der erhofften Entspannung der Lage bei den Thüringer Sozialgerichten beitragen wird, ist nach Auffassung des Präsidenten des Landesszialgerichts noch nicht abzusehen.
Jahresbericht der Thüringer Sozialgerichtsbarkeit 2011